Auf der Fähre nach Brooklyn

Eine meiner Quellen der Inspiration im Netz ist Maria Popovas liebevoll gestaltete Webseite Brainpickings. Als Newsletter abonniert, bietet sie wunderbar aufbereitete Gedanken und Einsichten für Menschen wie mich, auf ihrem Weg.

Heute lese ich dort zum ersten Mal Walt Whitmans Gedicht Crossing on Brooklyn Ferry, eine Meditation über das Verbundensein in der Menschheit, jenseits aller Zersplitterung in Zeit und Raum.

Es hat mich so in seinen Bann gezogen, dass ich mich an eine Übertragung wage.

Ich erhebe keinen Anspruch auf Perfektion mit diesem Text. Es ist Teil meiner Praxis, ein Eintauchen in Bilder und Gedanken, das mich in Kontakt bringt mit mir, Ruhe erzeugt und auch Glück, wenn ich eigene Worte finde und Resonanz spüre.

Vielleicht findet es ja Gefallen. Das Original finden Sie bei Brainpickings.

Pindo

Walt Whitman

Auf der Fähre nach Brooklyn

von Walt Whitman

Flut unter mir! Ich sehe dich, Auge in Auge
Wolken des Westens – Sonne, dort, eine halbe Stunde hoch – Auch Dich Auge in Auge.
Mengen von Männern und Frauen gekleidet wie immer, wie seltsam ihr mir scheint. 
Auf den Fährschiffen, aberhunderte, die übersetzen, auf dem Heimweg, sie kommen mir seltsamer vor als du glaubst
Und du, der übersetzen wird von Ufer zu Ufer, Jahre voraus, bist mehr für mich, und mehr in meinem Nachsinnen, als du glaubst.
Meine nicht greifbare Nahrung aus allen Dingen zu allen Stunden des Tags, 
Das einfache, kompakte, gut gegliederte Ganze, ich selbst aufgelöst, jeder einzelne aufgelöst und doch Teil eines Ganzen
Die Ähnlichkeiten zur Vergangenheit und jene zur Zukunft
Andere werden die Tore der Fähre durchschreiten und übersetzen von Ufer zu Ufer
Andere werden betrachten das Steigen der Flut
Andere werden sehen den Schiffsverkehr Manhattans im Norden und Westen, und die Anhöhen Brooklyns gen Süden und Osten
Andere werden sehen die Inseln, große und kleine
50 Jahre voraus, werden andere sie sehen, beim Übersetzen,
die Sonne eine halbe Stunde hoch
Hundert Jahre voraus, viele hundert Jahre voraus, werden andere sie sehen,
Werden den Sonnenuntergang genießen, das Aufkommen der Flut, das Zurückgehen der Wasser Richtung offenes Meer bei Ebbe.
Bedeutungslos, Zeit und Ort, Distanz bedeutungslos
Ich bin bei Euch, Ihr Männer und Frauen einer Generation, so vieler Generationen voraus
Was Ihr fühlt, wenn Ihr blickt auf den Fluss und den Himmel, das fühlte ich
So wie jeder einzelne von Euch einer ist aus einer lebenden Menge, war auch ich einer in einer Menge
So wie Ihr erfrischt seid von der Freude des Flusses, dem strahlenden Fließen, war auch ich erfrischt,
So wie Ihr steht und euch hinauslehnt über die Reling, euch aber beeilt wegen der schnellen Strömung, beeilte auch ich mich
Was ist denn dann zwischen uns?
Was ist die Zahl der Jahrzehnte oder Jahrhunderte zwischen uns?
Was auch immer es ist, es hat keine Bedeutung, Distanz ist bedeutungslos und auch der Ort.
Ich lebte ebenfalls, die weitläufigen Hügel Brooklyns gehörten mir.
Auch ich lief auf den Straßen von Manhattan Island und badete in den Wassern ringsum
Auch ich fühlte die merkwürdigen Fragen plötzlich aufsteigen in mir.
Nicht nur auf Euch fallen die dunklen Flecken,
Das Dunkle warf seine Flecken auch ab auf mich.
Das Beste was ich getan hatte, schien mir leer und verdächtig.
Meine großartigen Gedanken, die ich also solche ansah, waren sie nicht in Wirklichkeit kümmerlich?
Auch weißt nicht nur Du, was es heißt, böse zu sein.
Ich bin es, der wusste was böse ist.
Auch ich knüpfte den alten Knoten des Widerspruchs,
Plapperte, errötete, bereute, log, stahl, grollte,
Hinterlist, Ärger, Lust, heiße Wünsche über die ich nicht zu sprechen wagte.
War launisch, eitel, gierig, oberflächlich, durchtrieben, feige, bösartig.
Der Wolf, die Schlange, der Eber, mir nicht zugestehend
Den betrügerischen Blick, das frivole Wort, den ehebrecherischen Wunsch, nicht wollend
Zurückweisungen, Hass, Aufschieben, Gemeinheiten, Faulheit, all das nicht wollend
War einer der anderen, der Tage und Zufälle der anderen,
Wurde gerufen bei meinen nächsten Namen von klaren, lauten Stimmen junger Menschen, die sahen wie ich näher kam oder vorüber ging.
Fühlte ihre Arme um meinen Nacken, während ich da stand, oder das nachlässige Lehnen ihres Fleisches gegen das meine, wenn ich saß
Sah viele, die ich liebte, auf der Straße, der Fähre oder in öffentlichen Versammlungen, und sagte ihnen nie ein Wort.
Lebte dasselbe Leben wie der Rest, dasselbe alte Lachen, Nagen, Schlafen
Spielte den Part, der still zurück blickt auf den Schauspieler oder die Schauspielerin 
Dieselbe alte Rolle, die Rolle, die das ist was wir aus ihr machen,
so groß wie wir wollen
Oder so klein wie wir wollen,
oder beides, groß und klein.

Ein Gedanke zu „Auf der Fähre nach Brooklyn

  1. Magdalena Gwinnett

    Walt Whitman ist, wie alle Dichter, ein guter Beobachter der Menschheit. Er fuehlt sich als Teil der Gesellshaft, aber er schaut mit klaren Augen.

    Gefällt 1 Person

    Antwort

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