Wenn ich mit Kolleginnen und Kollegen, Bekannten, Freunden über meine Faszination für Achtsamkeit spreche, erhalte ich ab und zu Reaktionen wie diese:
„Ich freue mich, dass du das gefunden hast und es dir gut tut. Aber ich finde, eigentlich ist das ja nichts Neues. Ich denke, dass ich ähnlich positive Erfahrungen mache, wenn ich … ins Fitness-Studio gehe, … mich bei einem guten Buch entspanne, … Musik höre, … Ich brauche so was nicht.“
Lange Zeit habe ich dem zugestimmt und darauf hingewiesen, dass ja tatsächlich viele Beschäftigungen Erfahrungen von Achtsamkeit ermöglichen können. Ein Pianist, der in der Interpretation seines Stückes aufgeht, gleichsam „zur Musik wird, die er spielt“, ist achtsam. Ebenso ein Sportler, der sich ganz auf den gegenwärtigen Moment konzentriert, um genau jetzt die höchste Leistung abrufen zu können. Oder denken wir an den Leser, der sich in den Sog einer Romanhandlung begibt, so dass sein Geist für einen Moment aufhört, umher zu schweifen … Auch hier finden sich Elemente von Achtsamkeit.
Dennoch habe ich meine Meinung inzwischen geändert: Auch ich ging früher ins Fitness-Studio und fühlte mich dabei und danach immer sehr wohl. Natürlich tun wir uns etwas Gutes, wenn wir uns dorthin begeben. Und dennoch: Das Fitness-Studio bleibt ein Ort der Erholung VOM Alltag, VOM Stress, VON der Überanstrengung, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Ganz anders dagegen die Achtsamkeit: In den Jahren meiner Praxis habe ich festgestellt, dass regelmäßiges Meditieren mir Momente des Innehaltens geschenkt hat, die viel mehr sind als bloße Auszeiten. Stattdessen verändern sie mein Leben selbst, im Kleinen wie im Großen.
Zur Erläuterung ein – eigentlich recht unspektakuläres – Beispiel: Seit zwei Jahren backe ich jede Woche mindestens einmal aus den besten Zutaten selbst Brot. Diese dauerhafte Veränderung hat die folgenden Glücksmomente zu festen Bestandteilen meines Lebens werden lassen:
Mehl frisch mahlen und daran riechen,
mir voller Dankbarkeit vorstellen,
wie Sonne, Wasser, Erde
und die Arbeit eines Bauern
die Körner vor mir
hervorgebracht haben,
den Teig vorbereiten und spüren,
wie sich seine Konsistenz verändert,
auf meinen Unwillen im Körper achten, wenn
die Masse zu Beginn an den Fingern klebt,
Entspannung und Befriedigung aufsteigen lassen,
wenn er nach und nach dann doch
seine geschmeidige Konsistenz erhält,
Freude über meine Tochter,
die mit backen möchte und staunt, dass
der Teig sein Volumen in der Ruhezeit verdoppelt,
wahrnehmen, wie der
Duft des backenden Brotes langsam
aus dem Ofen in die Wohnung entweicht und
die Stimmung verändert,
das Geräusch der knusprigen Kruste
des noch warmen Brotes,
wenn ich sie durchschneide,
Geschmacksexplosionen auf dem Gaumen beim ersten Biss,
Freude beim Zubereiten der Schulbrote meiner Kinder,
wenn ich weiß, was genau ich ihnen da schenke
die Idee, das alles aufzuschreiben
als wär’s ein Gedicht und darüber
und über mich
zu lächeln.
Nein, Meditation ist doch mehr als ins Fitness-Studio zu gehen…
Pindo
Ich stimme Deinem Kommentar zu… Bei Achtsamkeit geht es ums „Einschalten“ in den Moment; nicht ums „Abschalten“ vom Alltag. Manche Menschen koennen vielleicht ueber Sport einen Einstieg in die Gegenwart finden; allerdings glaube ich, dass die Mehrheit Sport als einen Ausstieg aus der Gegenwart sieht, was ja der Achtsamkeit nicht sehr nahe steht…
Jules
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Danke, Jules, für die Präzision. Einschalten anstatt Abschalten, das ist es.
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Achtsamkeit ist aber auch ein Erlebnis, eines das mehr als unter die Haut geht.
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Genau, selbst ein bis ansonsten als banal empfundener Moment wird zum Erlebnis, wenn ich ihm mit Achtsamkeit begegne.
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Genau das ist Achtsamkeit, eine Haltung. Die kultiviere ich in der formellen Praxis wie einer Sitzmeditation und übertrage sie dann auf immer wieder neue Bereiche meines Lebens.
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Ich lese deinen Beitrag in meinen Schlafsack gekuschelt bei Caudia in MS. Und habe das, was du beim Brot backen beschreibst, beim Lesen gefühlt, gerochen u geschmeckt… schön! Jetzt freue ich mich aufs Frühstück! 😉
Natürlich hast du Recht finde ich. Achtsamkeit ist eine Haltung, kein Hobby.
Liebe Grüße, Monika
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