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Achtsame Grammatikstunde

In diesem Schuljahr unterrichte ich eine siebte Klasse in Spanisch. Wie all meine Lerngruppen habe ich auch diese recht bald mit Achtsamkeit in Kontakt gebracht. Seitdem sind achtsame Auszeiten im Unterricht fester Bestandteil unseres gemeinsamen Arbeitens. Auch nach mehr als zehn Jahren arbeite ich immer noch sehr gerne mit Soryu Foralls niedrigschwelligem Ansatz Mind the Music. Die Schüler*innen lieben es einfach, wenn sie im Unterricht die Möglichkeit haben, für einen Moment ihre Musik zu hören. Die Experimente mit Achtsamkeit – Fokus halten und wechseln, Kontakt mit Emotionen und Gedanken, Switch zwischen „außen hören“ und innen hören“ – machen sie da ganz nebenbei.

In anderen Momenten sitzen wir nur ein paar Minuten in Stille, machen eine kurze Reise durch unsere Körper, bemerken den Kontakt der Füße mit dem Fußboden, spüren das Gewicht unseres Körpers auf dem Stuhl, erkennen, dass wir Hände haben, nehmen den immer irgendwie vorhandenen Druck in unseren Schultern gelassen zur Kenntnis, denn ja, auch Siebtklässlerschultern tragen bereits niederdrückende, Verspannungen erzeugende Lasten…

Die Übungen enden in der Regel mit einem Atemraum, wie Susanne Krämer diese kurzen Atembeobachtungen in ihrem großartigen Buch Wache Schule nennt. Daran anschließend genießen wir dann gemeinsam noch einen Moment diese einzigartige, friedliche Stille, die entsteht, wenn eine Gruppe von Menschen sich gemeinsam dazu entscheidet, für ein paar Minuten gemeinsam zu schweigen. In der Schule, wo so oft durcheinander gebrüllt wird und oft Hektik pur herrscht, wirken solche Momente wie kostbare Perlen.

Vergangene Woche kam mir in diesem Moment gemeinsamer Stille spontan die Idee zu einem kleinen Experiment. Mit ruhiger Stimme bat ich die Schüler*innen für einen Moment die Augen zu schließen und ihre Gedanken ganz entspannt der vergangenen Stunde von vor zwei Tagen zuzuwenden. Ich bat sie zu schauen, ob sie sich an das Thema der Stunde erinnern konnten, brachte ihnen ins Gedächtnis, dass wir ein Tafelbild gemeinsam erarbeitet hatten und ließ sie sich an die neu eingeführten Formen erinnern. Dabei ermunterte ich sie immer wieder, auch den Atem zu beobachten, besonders ihr Ausatmen wahrzunehmen und sich klarzumachen, dass Ausatmen unweigerlich das Zwerchfell entspannt und dass sie, indem sie sich das klar machen, die Möglichkeit haben, die physische Entspannung auf ihren Geist zu übertragen.

Der Frieden im Raum wich einer entspannten Konzentration. Die meisten Schüler*innen hatten tatsächlich die Augen geschlossen und waren in ihre Gedanken vertieft. Nach ein paar Minuten beendete der Ton des Klangstabs die Übung, die Schüler*innen öffneten die Augen und begannen ruhig und bestimmt zu erzählen. Dabei ließen sie sich Zeit h,örten sich gegenseitig zu, reagierten aufeinander mit zustimmenden Äußerungen wie „Ach ja, genau“ Hier eine Rekonstruktion der Abfolge:

Es ging um Possessive.

Das sind Wörter, die Besitz ausdrücken, oder Zugehörigkeit.

Sie haben uns das englische Wort ‚to possess‘ genannt, es gibt auch das Wort ‚to own‘ aber ‚possess‘ heißt auch besitzen auf Englisch.

Die Formen sind mi / mis, tu / tus, su / sus, nuestro / nuestra , nuestros / nuestras, vuestro/ vuestra, vuestros / vuestras, su / sus.

Im Spanischen ist es in der ersten und zweiten Person anders als im Deutschen. wir sagen meine Mutter und mein Vater. Im Spanischen ist es nur mi …

Man muss aufpassen, dass man nuestro und vuestro nicht mit nosotros und vosotros verwechselt.

Ich war sehr beeindruckt, wie viel hängen geblieben war, lobte die Gruppe und schlug dann vor, dass wir mit ein paar vertiefenden Übungen zu den neuen Formen weiter machen könnten – und das taten wir dann auch.

Dieser aus dem Moment entstandene Unterrichtseinstieg widerspricht so ziemlich allem, was ich im Referendariat gelernt habe. Er ist nicht einsprachig, hat kein motivierendes Element, führt nicht direkt ins neue Stundenthema ein. Wenn ich diese Anforderungen schreibe, spüre ich Enge, Widerstand gegen die Hochleistungsdidaktik, die uns damals als perfektionistisches Ideal vermittelt wurde. Ganz anders meine Wahrnehmung bei der Erinnerung an diesen unprätentiösen Moment.

Menschen entspannen sich, genießen Ruhe, Entspannung, den Austausch miteinander und möchten lernen, einfach so, weil es ein Moment dafür ist.

Pindo

Die Bedeutung von Musik – und von Stille

Im Zeitmagazin vom 22.8.19 bin ich auf ein inspirierendes Interview mit dem Dirigenten Christoph Eschenbach gestoßen. Darin erzählt er unter anderem, wie ihn ein furchtbares Kindheitstrauma für lange Zeit vollkommen verstummen ließ. Und wie ihn die Musik dann wieder zum Sprechen brachte.

Besonders beeindruckt haben mich ein paar Sätze zur Bedeutung von Stille und Konzentration:

Was bedeutet Ihnen Stille?

Alles wird aus der Stille geboren in dieser lauten Welt. Stille ist unglaublich notwendig für Konzentration, Denken und Fühlen. Dafür müssen Sie sich zurückziehen. Stille hat auch sehr viel mit Spannung zu tun. Am Ende eines Stückes muss ein Raum entstehen, wo etwas nachwirkt und nicht zerklatscht wird. Das kommt auch aus dem Zentrum. Man muss wahnsinnig kontrolliert sein mit dem Atem. Sonst kann man die Stille nicht regieren.

Konzentration scheint für Sie besonders wichtig zu sein.

Ja , im wörtlichen Sinne, „Kon“ und „Zentrum“, So dirigiere ich, aus dem Zentrum heraus in die Bewegung. Diese Körperlichkeit beim Dirigieren ist mit dem Atem verbunden. Sie setzt sich durch den Atem im Orchester fort, und dann bekomme ich den Schwung von Atem wieder zurück. Das ist fast wie Ballett.

Mich fasziniert der Werkstattbericht dieses großen Künstlers. Und er bestärkt mich, meine Schülerinnen und Schüler immer wieder aufs Neue mit Stille und Konzentration, diesen ihnen recht unbekannten und teilweise auch negativ besetzten Konzepten zu konfrontieren.

So auch vergangene Woche, in der ersten Stunde eines Achtsamkeitstrainings für meine neue 9. Klasse. Nach einer kurzen Einführung und einer sechsminütigen Meditation mit dem Fokus „Außen Fühlen“, beendete ich die Einheit mit dem Klangstab. Gemeinsam lauschten wir dem verhallenden Glockenton und da war er, dieser „Raum, wo etwas nachwirkt und nichts zerklatscht wird“. Keiner hatte das Bedürfnis zu sprechen. Die Schüler waren regelrecht ergriffen von diesem Moment der Ruhe, des Durchatmens, des Verbundenseins, den wir uns gemeinsam geschaffen hatten, mitten im profanen Getöse des Schulalltags.

Die Früchte der Achtsamkeit sind oft spektakulär unspektakulär.

Pindo

Achtsamer Flow im Spanischunterricht

Die Doppelstunde gestern war eigentlich Alltagsgeschäft: Einführung in eine neue Lehrbucheinheit mit einer Spanischklasse im zweiten Lernjahr war angesagt.

Im Mittelpunkt stand eine Comicsequenz, die auch in einer Audiofassung vorlag:  Eine Clique von Freunden trifft sich nach den Ferien wieder und tauscht sich über die Ferien und den bevor stehenden Schulbeginn aus.

Zu Beginn hatte ich einen groben Unterrichtsplan im Kopf. Dann schaute ich aber in die müden Gesichter der Gruppe und begann spontan mit einer Achtsamkeitsübung. Die Klasse kennt das sehr einfache Schema dieser ca. fünfminütigen Einheit bereits und liebt es:

Wir fokussieren zunächst nacheinander Füße, Hände, Schultern,  dann den Atem und beobachten ihn für einige Zeit. Während der Übung sage ich den Schülern mehrfach, dass ihre Gedanken nun vermutlich auf Wanderschaft gingen und dass dies völlig normal sei. Sie sollen die Aufmerksamkeit dann einfach gelassen zum Atem zurück bringen.

Nach etwa drei Minuten wechseln wir den Fokus  vom Atem auf das eigene Hören, wir verschmelzen gleichsam mit den Ohren,  horchen gemeinsam auf all die Geräusche um uns herum, Gepolter auf dem Gang, das Summen des Projektors am Whiteboard, die Vögel draußen in den Bäumen, Wind, Stühleknarren, Husten , …

Wieder erinnere ich an die Normalität des Gedankenflugs und die Möglichkeit, einfach immer wieder aufs Neue zurück zu kehren zum Fokus, in diesem Fall zum HÖREN.

So weit so gut. Der Ablauf ist meinen Schülern und mir vertraut und inzwischen ein Garant für fünf Minuten Wohlgefühl. Gestern geschah dann jedoch etwas Neues:

Ich bat die Schüler spontan, den Fokus Hören bei zu behalten und in ihrem entspannten Zustand die Hörfassung des oben beschriebenen Textes anzuhören. (Hier der Link zu einer ähnlichen Erfahrung mit meinem Leistungskurs Englisch.)

Ich gab den Schülern einen einfach gehaltenen Auftrag, der darauf abzielte, nur die wesentlichen Aspekte der Situation zu erfassen: Wer unterhält sich in welcher Situation ganz grob worüber?

Nach dem Anhören tauschten sich die Schüler mit ihren Nachbarn über ihre Erkenntnisse aus und ich notierte diese an der Tafel. Dabei übertraf die Klasse meine Erwartungen deutlich.

Ich beglückwünschte die Schüler zu ihrer Leistung und wies sie dann auf eine Beobachtung hin, die ich während des ersten Hördurchgangs gemacht hatte: Trotz der vorgeschalteten Entspannungsübung hatten auch diesmal mehrere Schüler wieder nach Einsetzen der Aufnahme mit spontaner Ablehnung reagiert: „Boah ist das schwer, ich verstehe ja kein Wort.“ Ich zeigte auf die gesammelten Informationen auf der Tafel, die dieser Selbsteinschätzung völlig zuwider liefen. Dann hielt ich ihnen einen Minivortrag über die Angewohnheit von uns Menschen, unsere Sinneseindrücke immer sofort zu beurteilen, anstatt sie einfach erst einmal wirklich wahr zu nehmen. Dabei griff ich auf mein Wissen aus dem MBSR-Kurs bei Karin Wolf zurück, in dem wir das Nicht-Urteilen als eine der meditativen Grundhaltungen eingeübt hatten. (Vgl. hierzu diesen Eintrag.)

Ich bat die Schüler nun, sich nochmals kurz zu entspannen und den Fokus Hören wieder aufzubauen, um der Tonaufnahme ein zweites Mal zu lauschen. Diesmal sollten sie jedoch bewusst versuchen, Urteile jeglicher Art zu vermeiden.

Die Ergebnisse waren für mich spektakulär. Die Schüler hörten eine Vielzahl von Details heraus, anschließend stand die Geschichte in ihren wesentlichen Punkten klar erkennbar an der Tafel.

Nun lasen wir den Comic gemeinsam und hörten dazu nochmals die Tonfassung. Zwischendurch unterbrach ich an mehreren Stellen, stellte kurze Verständnisfragen und erläuterte ein neues grammatisches Phänomen.

Dann traf ich die nächste Entscheidung aus dem Moment heraus. Ich bat die Schüler, die Texte zu verdecken, ihre Augen zu schließen und eine Minute in Stille auf ihre innere Stimme zu lauschen, die ihnen nun wichtige Wörter aus der Geschichte vorsagen würde.

Die Plenumsphase anschließend ergab ein wahres Feuerwerk von neuen Wörtern, an die sie sich erinnerten.

Nächste Idee – Assoziationen! „Nun machen wir eine Wortkette: Ein Schüler sagt ein Wort aus der Geschichte, der nächste sagt ein anderes, das ihm in den Sinn kommt, wenn er das vorherige Wort hört und so weiter.“ So wiederholten wir die Wörter nochmals, in anderer Reihenfolge und festigten sie durch den assoziativen Charakter der Übung.

Beim Austauschen der Wortassoziationen griff ich nochmals kurz ein und schlug den Schülern vor, den Fokus Hören aus der formellen Übung vom Stundenbeginn nun auch auf den Austausch mit den Klassenkameraden zu übertragen. So, wie wir vorhin dem Text gelauscht hatten, könnten wir nun den Stimmen der anderen im Raum zuhören.

Die Folge war eine konzentrierte Stille, stets nur unterbrochen von der Stimme eines einzelnen Schülers, eine Stille, in der man die Energie der Gruppe förmlich mit Händen greifen konnte. Schüler, die sich zuhören und austauschen, ohne dass man für Disziplin sorgt – Sternstunden für jeden Pädagogen. In den vergangenen Monaten hatte ich sie schon öfters direkt nach einer Achtsamkeitsübung erlebt. Nie jedoch hatten sie so lang angehalten wie diesmal.

Während die Schüler im Austausch waren, überlegte ich mir den nächsten Schritt: Logisch,  Schreiben passte jetzt. Also: „Nehmt euch ein Blatt Papier und formuliert einzelne Sätze, die zur Geschichte passen. Die Sätze müssen nicht unbedingt im Zusammenhang zueinander stehen.“

Die Schüler setzten sich hin, sofort setzte das übliche Gemurmel mit den Tischnachbarn ein und die Konzentration brach binnen Sekunden in sich zusammen. Darauf ergriff ich wieder spontan kurz das Wort und schlug ihnen vor, noch einen neuen Fokus auszuprobieren. „Probiert es jetzt einmal mit SCHREIBEN. Jedes Mal, wenn eure Gedanken auf Wanderschaft gehen, bringt ihr sie zurück zum SCHREIBEN.“ Wieder war die Wirkung umwerfend. Sofort kehrte die Energie zurück. Für die nächsten 10 Minuten formulierten alle Schüler mit Sorgfalt Sätze in ihrem Spanisch.

Es folgte eine weitere Plenumsphase, in der ein Schüler einen Satz vorlas und anschließend selbstständig einen anderen Schüler dran nahm. Zwischendurch schlug ich den Vorlesenden kurz vor, mit Hilfe des Fokusses SPRECHEN der eigenen Stimme mehr Druck zu verleihen. Auch das wurde sofort umgesetzt und die Schüler waren sofort besser zu verstehen.

Dann ging diese ganz besondere Doppelstunde, in der wir ohne Pause gearbeitet hatten, zu Ende. Ich lobte die Schüler nochmals  und dankte ihnen für die konzentrierte Mitarbeit. Abschließend sagte ich Ihnen, ich wollte eine schriftliche Hausaufgabe erteilen. Ich fragte, wie eine Schreibaufgabe aussehen könnte, in der all das heute Gelernte nochmals zusammen fließen würde und die für sie interessant zu bearbeiten sei. Gemeinsam entwickelten wir so folgenden Arbeitsauftrag: Übernehme die Perspektive einer der Personen aus dem Comic und schreibe in dein Tagebuch über das Wiedersehen mit deinen Freunden nach den Sommerferien.

Es klingelte, die Schüler verließen gut gelaunt den Raum. Im Vorbeigehen verabschiedeten sich alle persönlich vor mir.

Zurück blieb ich mit einer Referendarin, die in der Stunde hospitiert hatte. Sie kam nach vorn, pures Staunen auf ihrem Gesicht. Sie schüttelte ungläubig den Kopf und fragte mich, wie lange ich denn an der Planung für diese Stunde gesessen hätte.

Meine Reaktion: Fassungsloses Schulterzucken und zwei Worte: „Reine Improvisation.“

Pindo

 

Sich konzentrieren ist wie … Tubaspielen!

„Was tue ich, wenn ich lernen möchte, die Tuba zu spielen?“

Mit dieser Frage leitete Soryu Forall auf einem Retreat vergangene Woche in Lüneburg-Heiligenthal eine Reflexion ein, die mich immer noch elektrisiert. Die Antwort ist einfach: „Ich spiele die Tuba!“ Die sich anschließende Frage lautet: „Und was muss ich tun, wenn ich lernen möchte, mich zu konzentrieren? – Na klar, ich konzentriere mich!!

Verblüfft Sie die Analogie? Mich inzwischen nicht mehr. Ich habe in den vergangenen Monaten erfahren, dass Konzentration tatsächlich nicht etwa eine FÄHIGKEIT ist, die einige Menschen aus mysteriösen Gründen mehr haben als andere.  Es handelt sich vielmehr um eine FERTIGKEIT, die man relativ einfach erlernen kann, indem man sie immer wieder aufs Neue trainiert.

Den Weg hierzu kann etwa Modern Mindfulness weisen, ein Training zur achtsamen Wahrnehmung für Jugendliche , das auf Shinzen Youngs Ansatz der Basic Mindfulness basiert.

Shinzen Young erklärt achtsames Wahrnehmen als das Zusammenwirken der drei Faktoren Konzentration, Klarheit und Gelassenheit.

Unter Konzentrations-Kraft können Sie sich die Fähigkeit vorstellen, das zu fokussieren, was Sie zu einer bestimmten Zeit für relevant halten. Unter Sinnes-Klarheit können Sie sich die Fähigkeit vorstellen, den Überblick über das zu behalten, was Sie im jeweiligen Moment erfahren. Unter Gelassenheit können Sie sich die Fähigkeit vorstellen, den Sinnes-Erfahrungen zu erlauben zu kommen und gehen, ohne sie abzulehnen oder zu unterdrücken. (Shinzen Young, 5 Wege sich selbst besser kennen zu lernen, S. 9, Übersetzung: Sabine Heggemann)

Das Trainieren der Konzentrationskraft ist vom Prinzip her sehr einfach: Ich wähle einen oder mehrere Bereiche meines Wahrnehmungsapparats (Sehen-Hören-Fühlen),  richte ihn/ sie auf ein Objekt oder ein Ereignis innerhalb oder außerhalb von mir und halte die gewählte  Wahrnehmung so gelassen wie möglich aufrecht.

Mögliche Objekte der Wahrnehmung sind all die Dinge, die wir außerhalb von uns sehen, hören und fühlen, unsere Körperwahrnehmungen sowie unsere Gedanken (in Form innerer Bilder und Stimmen) und Emotionen.

Stelle ich schließlich fest, dass meine Gedanken begonnen haben, in die Vergangenheit oder Zukunft zu wandern,  was in der Regel sehr schnell passiert, nehme ich dies ruhig zur Kenntnis und kehre gelassen zum Objekt der Betrachtung zurück.

Dies ist der Kern des Konzentrierens als Lernvorgang: Ich fokussiere, werde abgelenkt, nehme dies wahr und kehre gelassen zum Fokus zurück, werde wieder abgelenkt, nehme wahr, kehre zurück, zehnmal, hundertmal, tausendmal, …

Soryu erwähnt in seiner Reflexion zwei weitere wichtige Punkte:

  1.  Konzentration als Fertigkeit nimmt auf exponentielle Weise zu. So hat man zunächst kaum den Eindruck, dass sich etwas ändert, mit der Zeit intensiviert sich die Konzentrationskraft dann aber in immer kürzerer Zeit immer mehr.
  2. Das Konzentrieren im beschriebenen Sinne erzeugt eine positive Feedbackschleife, die beim Übenden ein intensives Wohlgefühl auslöst. Konzentrierte Menschen sind also glücklicher.

Überlegen Sie bitte für einen Moment, wie oft Sie in Ihrem Leben  als Eltern, Töchter, Söhne, Lehrer/innen oder Schüler/innen schon folgenden Satz gehört oder selbst gesagt haben: „Mensch, jetzt konzentrier dich doch mal!“ – meist begleitet von einer ziemlich ausgeprägten Ungeduld.

ABER: Hat Ihnen jemals ein Menschen gezeigt, wie das geht – oder haben Sie dies getan?

Eingangs schrieb ich, dass mich Soryus Frage zum Tubaspielen elektrisiert hat. Warum? Für mich ist die Erkenntnis zum „Konzentrieren lernen“ vielleicht die wichtigste in meinem Lehrerdasein. Seitdem ich mit meinen Schülerinnen und Schülern und inzwischen auch einigen Kolleginnen und Kollegen Achtsamkeit übe, erfahren wir alle Tag für Tag, wie gut dies tut, uns und unserer Umwelt.

Achtsamkeit enthüllt hier ihre wahrlich transformierende Kraft.

Pindo.

Achtsamer Stundenbeginn

Achtsam eine Unterrichtsstunde beginnen? Bei mir funktioniert es in zwei kleineren Lerngruppen der Mittelstufe inzwischen so gut, dass die 14-jährigen Schüler mich selbst daran erinnern, wenn ich es einmal vergesse.

Das Ritual besteht aus einer fünfminütigen Achtsamkeitsübung, bei der mich eine Klangschalen-App auf meinem Smartphone untestützt. Die Klangschale leitet die Übung ein, markiert die Halbzeit nach zweieinhalb Minuten und signalisiert mit einem dreifachen Klang das Ende.

Wir setzen uns gerade hin, schließen die Augen oder lassen den Blick ins Leere gleiten. Dann nehmen wir drei tiefe Atemzüge, wobei wir bei jedem Einatmen bewusst die Wirbelsäule aufrichten und bei jedem Ausatmen den Körper zur Ruhe kommen lassen.

Anschließend lassen wir die Kontrolle des Atems los, suchen uns einen Ort im Körper, an dem wir ihn weiterhin besonders gut wahrnehmen (Wölbung von Brustkorb oder Bauchdecke, Lufthauch an der Nase) und gehen dazu über, den Atem nur noch zu beobachten.

Weiterhin senden wir mit unserem Geist dem Körper Signale. Jedes Einatmen ist ein Aufrichten, jedes Ausatmen ein Entspannen. Dies können die Schüler verstärken, indem sie mit ihrer inneren Stimme beim Atmen Botschaften formulieren: „Aufrichten … Entspannen..“.

Ich weise die Gruppe darauf hin, dass es völlig normal ist, wenn ihre Gedanken sich nach kurzer Zeit woanders hin begeben. Ich bitte sie, kurz festzustellen, wohin sie sich begeben haben und dabei möglichst gelassen und ohne zu werten vorzugehen. Dann holen sie ihren Geist zum augenblicklichen Fokus, dem Atmen und Entspannen zurück.

Nach etwa der Hälfte der Zeit bitte ich die Schüler, nun ihren Fokus zu ändern. Wir lassen das Entspannen in den Hintergrund treten und konzentrieren uns aufs Hören, verschmelzen mit unserem Hörsinn. Sie hören meine Stimme, Geräusche der Bewegungen von Mitschülern, das Scharren der Tische und Stühle im Raum über uns, Gespräche auf dem Gang, den Lieferwagen des Catering-Unternehmens auf dem Schulhof, Vogelzwitschern … und vermeiden dabei jede Wertung: „Da ist das Geräusch X … wir sitzen hier und hören …“

Nochmals bitte ich sie darum, ihre Gedanken gelassen zurückzuholen, wenn sie sich auf Wanderschaft begeben. Zum Ende gehe ich nochmals kurz zum Fokus Entspannen zurück und lasse die Klangschale die Übung beenden.

Die Wirkung dieser Übung beeindruckt mich immer wieder. Vorgestern,  an einem Freitag in der 7. Stunde (!) begann ich meinen Unterricht wieder auf diese Weise. Aus einer wuseligen, unkonzentrierten Teenie-Schar in verquatschter Vorwochenendstimmung wurde in den fünf Minuten eine deutlich entspanntere Gruppe, die die Ruhe im Raum sichtlich genoss und nun dazu bereit war, noch eine gute halbe Stunde konzentriert meinem Input zu Präpositionen und Ortsangaben im Spanischen zu folgen.

Für mich sind dies magische Momente im Beruf.

Übrigens basiert die Übung auf Inhalten von Modern Mindfulness, einem online-gestützten Programm, das Lehrkräften die Möglichkeit gibt, Achtsamkeitsimpulse auf einfache Weise in den Schulalltag einfließen zu lassen. Entwickelt wurde es am Center for Mindful Learning (Vermont / USA). Der Autor ist Soryu Forall, der „Erfinder“ von Mind the Music .

Derzeit existiert Modern Mindfulness nur in englischer Sprache. Eine deutsche Version ist geplant.

Pindo

Achtsames Zuhören im Englischunterricht

Ein Achtsamkeitstraining wie Mind the Music schult drei Dinge zugleich:

  • Konzentrationsfähigkeit, als Fähigkeit, in einem bestimmten Moment ein Handeln bzw. einen Gegenstand zu fokussieren, alles andere in den Hintergrund zu rücken und den Geist immer wieder aufs Neue auf den gewählten Gegenstand zurück zu lenken;
  • Klarheit der Wahrnehmung dessen, was gerade im Fokus steht und
  • Gelassenheit als geistige Grundhaltung sowie Entspannung als ihre körperlich wahrnehmbare Entsprechung.

(Mehr hierzu in Shinzen Youngs Grundlagenwerk Five Ways to Know Yourself, S. 9ff. Der folgende Link führt zur deutschen Übersetzung.)

Kürzlich konnte ich im Englischunterricht wieder einmal feststellen, wie kraftvoll sich ein solches Training auf das Leistungsvermögen von Schülerinnen und Schülern auswirkt:

Wir sprachen im Leistungskurs Englisch über die Folgen der digitalen Revolution für die Massenmedien und hörten in diesem Zusammenhang ein Radiointerview mit einem Experten für neue Medien. Die Tonqualität war schlecht und der Gesprächsinhalt anspruchsvoll. Nach kurzer Zeit gab ein Teil des Kurses auf und fing an, sich untereinander leise zu unterhalten. Die Folge war, dass nun auch die übrigen Kursteilnehmer/innen wenig Chancen hatten, etwas zu verstehen. Ich ärgerte mich zwar zunächst, reagierte dann aber verständnisvoll, da es angesichts der Tonqualität selbst für mich eine Herausforderung war, den Text zu verstehen.

In der nächsten Stunde bat mich ein Schüler des Kurses, der auch an meiner Mind the Music-AG teilnimmt, um eine Entspannungsübung. Er war müde und hatte Bedürfnis nach einem Moment des Durchatmens. Ich stimmte zu und leitete eine Übung zur Atembeobachtung ein. Nachdem ich feststellte, dass die Schüler alle bei der Sache waren, bekam ich spontan Lust auf ein Experiment:

Ich schlug den Kursteilnehmern, die alle mit geschlossenen Augen ruhig vor sich hin atmeten, nun vor, den Fokus nun von der Atmung auf ihr Gehör zu verlagern. Nach einiger Zeit kündigte ich an, dass ich ihnen direkt im Anschluss an die Übung nochmals das Radiointerview vorspielen würde. Ich bat sie, die Augen geschlossen zu halten und in ihrer Haltung der entspannten Konzentration zu verweilen. Für den Fall, dass die schlechte Tonqualität oder der schwierige Inhalt sie stressen sollte, schlug ich ihnen vor, für einen Moment wieder ihren Atem zu fokussieren und sich über das Ausatmen zu entspannen. Alle Schüler verharrten in ihrer Haltung, ich schritt zur Tafel, startete die Aufnahme und blieb dabei selbst im „Achtsamkeitsmodus“.

Die folgende Erfahrung war spektakulär: Ich stand entspannt im Raum, blickte mit einem Glücksgefühl auf 20 achtsam zuhörende Schülerinnen und Schüler, ließ gleichzeitig die Sprache über das Gehör in meinen Geist einfließen  – und verstand nun jedes einzelne Wort! Nach der Übung stellte ich dann in einem kurzen Gespräch fest, dass es nun auch für den Kurs viel leichter gewesen war, dem Interview zu folgen.

Pindo