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Im Flow auf dem Karussell

Seit vielen Jahren verbringen wir die Sommerferien in Galicien am Meer. Die Wochen dort sind für mich ein Rausch der Ruhe. Alles kommt zum Stillstand. Für zwei bis drei kostbare Wochen hört die Zeit auf zu existieren, bevor mein Geist wieder eintritt in die Erwartung dessen, was in Deutschland nach meiner Rückkehr auf mich wartet.

Für meine Töchter ist die „Fiesta del Carmen“ einer der Höhepunkte des Sommers. Carmen, die Schutzpatronin der Seeleute, wird im August an der gesamten galicischen Küste mit großen Seeprozessionen und mehrtägigen Straßenfesten, Feuerwerken und sonstigem Tamtam gefeiert.
Auf dem Festplatz am Meer sind dann all die verlockenden Fahrgeschäfte aufgebaut, Autoscooter, Geisterbahnen, ein Kettenkarussell …, lauter Dinge, die Mädchenherzen höher schlagen lassen. Auch dieses Mal war das absolute Highlight der „Saltamontes“, der seinem Namen – Grashüpfer – alle Ehre macht. Man wird zu dritt in einer offenen Dreierkabine festgeschnallt, dann beginnt sich die gesamte Apparatur extrem schnell im Kreis zu drehen, während die Fahrgäste in ihren Kabinen an langen Maschinenarmen auf und nieder tanzen. Dazu dröhnt ohrenbetäubend laute Musik…

Für meine Töchter ist die Fahrt ein Moment purer Euphorie, für mich der Alptraum. Ich habe seit meiner Kindheit Höhenangst und meide derartige Höllenmaschinen seit jeher. Nun bin ich aber ein Papa, der natürlich auch Freude daran hat, die Augen der eigenen Kinder vor Glück strahlen zu sehen. Und deswegen lass ich mich Jahr für Jahr wieder auf zwei bis drei Grashüpferritte ein. Vielleicht ist das ja mein Opfer für die heilige Carmen. Ich hoffe, sie weiß es zu schätzen.

Mein erster Durchgang in diesem Jahr folgte dem mir bekannten Schema: Ich stieg bereits mit Herzklopfen ein, hielt mich krampfhaft am Bügel vor mir fest, blickte während der gesamten Fahrt den Blick starr gerade aus, ärgerte mich über die laute Musik, schimpfte mich einen Blödmann, hatte Angst um meine Halswirbel, die bei jedem Ruck schmerzten… Der bekannte Horror eben. Neben mir amüsierten sich meine Töchter dafür köstlich. Sicher trug der Anblick von Papas Leiden noch zusätzlich zu ihrem Spaß bei.

Dann geschah jedoch bei der zweiten Fahrt etwas Bemerkenswertes. Noch während wir auf den Start warteten, erinnerte ich mich ganz plötzlich an eine Meditationsform, die ich im Frühjahr während meiner Beschäftigung mit der Basic Mindfulness, dem Meditationssystem des amerikanischen Meditationslehrers Shinzen Young, kennen gelernt hatte. Es handelt sich um die Flow-Meditation. Bei dieser fokussiert man, verkürzt gesagt, nicht die verschiedenen Erfahrungszustände, etwa eine Hörerfahrung, eine Seherfahrung oder eine Körperwahrnehmung. Statt dessen versucht man, die Übergänge zwischen den einzelnen Zuständen, die Veränderungen ins Blickfeld zu nehmen. Jedes Mal, wenn man eine solche Veränderung wahrnimmt, benennt man sie mit dem Etikett „Flow“. (Näheres dazu in Shinzen Youngs wunderbarem Reader zur Achtsamkeit, der hier kostenlos zu erhalten ist).

Nun entschloss ich mich ganz spontan zu einem Experiment. Ich konzentrierte mich auf die Bewegungen des Karussells und meinen darauf reagierenden Körper und kommentierte jede wahrgenommene Veränderung mit einem gedanklichen „Flow!“ Die sich daraus ergebende Erfahrung war beeindruckend. Wie von selbst lockerte mein Körper seine Verkrampfung und begann, sich den Bewegungen der Maschine anzupassen. Zeitweise hatte ich das Gefühl, in der Fahrkabine auf meinem Sitz zu tanzen. Auch mein Geist entspannte sich zusehends. Ich schaute auf die glücklichen Gesichter meiner Kinder und spürte Freude in mir aufsteigen. Dann hob ich den Blick und nahm den Blick auf das Festgelände und die Bucht von Vigo im Abendlicht wahr. Immer wieder kommentierte ich meine Erfahrungen innerlich als „Flow“ und genoss für den Rest des Fluges die ganz neue Wahrnehmung – und die Überwindung meiner panischen Angst.

Pindo

Vom Sinn der Schatten

Eine der Maximen, die wir im MBSR-Kurs erfahren haben, lautet: „Bewahre den Geist des Anfängers.“

Welch ein Privileg haben wir Eltern doch, die wir unseren Kindern täglich dabei zusehen und zuhören können, wie sie  durch die Welt spazieren, erfüllt von genau diesem Geist.

Die erste Frage, die meine sechsjährige Tochter mir jüngst direkt nach dem Aufwachen stellte, lautete: „Papa, wozu sind eigentlich Schatten da?“

Warum hätte ich ihr leicht beantworten können, aber Wozu?

Pindo

Achtsamkeit im Familienleben: Der Familienrat

Unsere Töchter sind 5 und 7 Jahre alt. Zwei wunderbare, kluge, kreative und sehr sensible Wirbelwinde, mit eigenen Gedanken, einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und dem Anspruch, sich nicht nur von den Erwachsenen herum kommandieren zu lassen. Natürlich sorgt das immer mal wieder auch für gehörigen Konfliktstoff. Bei der Suche nach einem Ventil für unsere Auseinandersetzungen ist mir die Idee des Familienrates gekommen:

Im Familienrat sitzen wir zu viert gemeinsam auf dem große Teppich im Wohnzimmer. In der Mitte von uns steht eine Klangschale. Der Familienrat beginnt, indem eines der Kinder die Schale erklingen lässt und wir alle dem verhallenden Ton nach hören. Dieses gemeinsame Klangerlebnis bringt uns in eine ruhige und konzentrierte Haltung. Während des Rates dürfen alle Mitglieder sagen, was ihnen derzeit an unserem Zusammenleben gefällt, was sie stört oder einfach nur, was sie gerade beschäftigt. Die Regeln des Rates sind einfach: Jeder darf alles sagen. Niemand fällt dem anderen ins Wort. Keiner erhebt die Stimme. Am Ende des Rates steht wieder die Klangschale.

Wir Eltern nutzen den Rat, um Ankündigungen über wichtige Ereignisse zu machen, die unseren Alltag prägen. Außerdem äußern wir Kritik an Verhaltensweisen, die uns gerade nicht gefallen oder gehen nochmals auf einen Streit ein, der kürzlich für Spannung in der Familie gesorgt hat. Wir bringen aber auch immer Lob für etwas mit ein, das gerade besonders gut klappt. Den Kindern gefällt der Rat sehr. Sie fühlen sich ernst genommen und nutzen den Moment des ruhigen Zusammenseins, um auch selbst in ruhiger Form Dinge vorzubringen, die sie so nicht mögen.

Der Familienrat – eine achtsame Bereicherung unseres Familienlebens.

Pindo

Vor der Achtsamkeit: das Hamsterrad

Die Krisensymptome nahmen irgendwann Überhand. Im beruflichen Bereich hatte ich das Gefühl, den Aufgaben nicht mehr gerecht zu werden, weswegen ich meine Arbeitszeiten immer weiter ausdehnte – zum Schluss sogar auf den frühen Morgen ab 5 Uhr. Dennoch wurde ich nie fertig. Wie auch? Fertigwerden ist nicht vorgesehen im Lehrerberuf und objektiv auch gar nicht möglich. Dazu rührt man einfach in zu vielen Leben gleichzeitig. In der Schule rannte ich von morgens früh bis zum Nachmittag ohne wirkliche Pause von Unterrichtsstunde zu Unterrichtsstunde. Unterrichten ist Hochleistungssport. 35 13-jährige Pubertierende saugen einem die Energie in einer Doppelstunde Englisch buchstäblich aus dem Körper, egal wie positiv sie dir gegenüber stehen. In den Pausen zwischen den Stunden dann noch Kopieren, Schülergespräche zu Banalitäten, aber auch menschlichen Abgründen, Abstimmungen mit Kollegen und der Schulleitung – oft in einer Taktfrequenz, bei der ich nicht Zeit für die elementarsten Dinge wie etwa Trinken fand.

Ich bin Lehrer mit Leib und Seele. Und deshalb quälte es mich, dass ich in all den banalen organisatorischen Dingen, die meinen beruflichen Alltag füllten, nicht die Zeit für die wirklich wichtigen Dinge fand. Zeit für individuelle Beratungen von Schülern etwa, die an der deutschen Schule nicht eingetaktet ist. Sie geht immer zu Lasten der vielen anderen Pflichten, oftmals furchtbar bürokratischer Art, die dennoch erledigt werden müssen.

So verließ ich die Schule regelmäßig mit einem Gefühl der Unzufriedenheit und Ohnmacht. Auf dem Weg nach Hause, wenn auf dem Fahrrad der Adrenalinspiegel sank, fielen mir  buchstäblich die Augen zu. Trotzdem fing in meinem Kopf dann schon der innere Perfektionist als Zuchtmeister an zu zetern und mich daran zu erinnern, dass ich am Nachmittag noch sechs Stunden für den nächsten Tag vorzubereiten hatte. Kurz darauf meldete sich mein schlechtes Gewissen lauthals zu Wort und erinnerte mich an meine väterlichen Pflichten: In einer Stunde kamen die Kinder aus Schule und Kindergarten und wollten mit Papa spielen. Wenn ich mich mit dem Mittagessen beeilte, konnte ich sie vielleicht sogar noch selbst abholen.

Alles floss ineinander. Meine ganze Familie litt mit mir, unter den inneren Streitereien zwischen Zuchtmeister und Moralapostel, weil ich nur ganz selten wirklich geistig anwesend war. Während ich vorgab, mit den Kindern Memory zu spielen, flogen meine Gedanken schon zum Schreibtisch. Hatte der Zuchtmeister gewonnen und ich mich losgeeist, nörgelte am Schreibtisch das schlechte Gewissen wieder los, störte meine Konzentration und zog die Unterrichtsvorbereitungen dadurch unnötig in die Länge.

Ich führte ein Leben als Teufelskreis, im Hamsterrad, in der Tretmühle – und hatte mich in mein Schicksal gefügt.

Pindo