Zu meinen faszinierendsten Lektüren der vergangenen Monate gehört Yuval Noah Hararis Buch Sapiens. A Brief History of Humankind. (Deutsche Ausgabe: Ein kurze Geschichte der Menschheit.) Es ist schlicht genial, wie dieser Autor aus der Vogelperspektive die ganz großen Entwicklungsschritte der Menschheitsgeschichte ins Blickfeld nimmt und die Geschehnisse auf eine verständliche Weise so darstellt, dass man beim Lesen von einem Aha-Erlebnis ins nächste stolpert.

Besonders beeindruckt haben mich die Erläuterungen zur Jungsteinzeit vor ca. 10 000 Jahren, in der die Menschheit den Schritt von einer Gesellschaft nomadisch lebender Jäger und Sammler in die sesshafter Bauern vollzog.
Zunächst macht Harari deutlich, dass bei der Beurteilung einer historischen Entwicklung als Fortschritt zwei Perspektiven zu unterscheiden sind: die der Spezies und die des Individuums: Die agrarische Revolution jener Zeit, die uns sesshaft werden ließ, schuf eine wesentliche Grundlage dafür, dass die Menschheit zur überlegenen Spezies im Ökosystem Erde wurde. Das mit Hilfe des neuen Wissens produzierte Mehr an Nahrung führte zu einer regelrechten Bevölkerungsexplosion. Aus Sicht der Spezies Mensch handelt es sich hierbei also um eine sensationelle Erfolgsstory.
Die Perspektive wandelt sich, wenn man den Blick auf das Individuum richtet. Tatsächlich, so Harari, hatte der einzelne Mensch in der Jäger- und Sammler-Gesellschaft eine höhere Lebensqualität. Seine Nahrung war frischer, abwechslungsreicher und somit gesünder und er verbrachte viel weniger Zeit am Tag mit „Arbeit“. Schätzungen gehen davon aus, dass die Angehörigen einer Sippe von Jägern und Sammlern ca. 5 Stunden am Tag mit der Erledigung von Aufgaben zubrachten, die den Lebenserhalt sicher stellten. Den Rest der Zeit hatten sie „frei“.
Zudem hatte der durch die Agrarrevolution erzeugte Nahrungszuwachs eine soziale Revolution zur Folge: Komplexe Gesellschaften entstanden, in denen die hart arbeitenden Bauern mit ihren Erzeugnissen parasitär lebende Eliten von Königen, Verwaltungsbeamten, Soldaten, Priestern, Künstlern und Denkern (darunter auch Lehrer…) ernährten, die wiederum die Menschheit in großen Themen wie Politik, Kriegsführung, Kunst und Philosophie voran brachten. Zweifellos größtenteils beeindruckende Entwicklungen – jedoch nur aus Spezies-Perspektive. Denn: 90% der Individuen innerhalb dieser Spezies gehörten zum Stand der Bauern, die sich tagtäglich den Rücken krumm schufteten und praktisch nichts von diesen Errungenschaften hatten.
Spannend sind auch Hararis Anmerkungen zur mentalen Entwicklung der Menschen dieser Zeit: Durch die Agrarrevolution sah sich Sapiens zum ersten Mal in seiner Geschichte mit der Notwendigkeit konfrontiert, sein Leben im Moment zu verlassen und zu planen. Jäger und Sammler hatten kaum Möglichkeit, ihr Leben planerisch positiv zu beeinflussen. Der Speiseplan entstand zufällig durch das aktuell zur Verfügung stehende Nahrungsmittelangebot. Erlegte die Sippe ein Mammut, gab es ein Festmahl. An anderen Tagen standen halt Wurzeln und Pilze auf der Speisekarte.
Für Menschen, die als Bauern lebten, ergab sich dagegen erstmals überhaupt ein Anlass, sich mental in die Zukunft zu begeben: Wann war der beste Moment für die Aussaat? Würde es nächste Woche regnen oder konnte man noch eine Woche mit der Ernte warten? Wieviel Getreide musste zurück gehalten werden, um im nächsten Jahr wieder die Felder bestellen zu können? Am Tag nach der erfolgreichen Ernte gab es vielleicht einen Augenblick der Ausgelassenheit während eines Dankesfestes. In der Woche danach war der sorgenerfüllte Geist aber schon wieder auf den Feldern, grübelnd über mögliche Dürrephasen, Fluten und Schädlinge sowie die bestmögliche Strategie für ein Weiterkommen:
Consequently, from the very advent of agriculture, worries about the future became major players in the theatre of the human mind. (…) Peasants were worried about the future not just because they had more cause for worry, but also because they could do something about it. They could clear another field, dig another irrigation canal, sow more crops. The anxious peasant was as frenetic and hardworking as a harvester ant in the summer, sweating to plant olive trees whose oil would be pressed by his children and grandchildren, putting off until the winter of the following year the eating of the food he craved today.
Harari, Sapiens, p. 113
Hier entstehen ganz neue Einblicke, wenn Jahrtausende zusammensurren. Klar: Smartphones, Digitalisierung und Flexibilisierung erzeugen viel Druck auf uns Individuen des 21. Jahrhunderts: wir Armen, die nachts wach liegen, weil unser Affengeist nicht zur Ruhe kommt. Grundsätzlich kannten unsere Ahnen diese Geistehaltung aber tatsächlich schon vor 10000 Jahren. Jene haben sie damals als Individuen auf sich genommen, als unausweichliche Begleiterscheinung des triumphalen Siegeszugs der Spezies Sapiens in der Geschichte unseres Planeten.
Nicht schlecht, Herr Harari. Danke für die Einsicht.
Pindo