Archiv der Kategorie: Achtsamkeitskurse

AVE – ein Portal für Achtsamkeit in der Pädagogik

Sie interessieren sich für Achtsamkeit und ihre transformierende Wirkung in der Bildung? Dann ist die neu aufgestellte Webseite des AVE-Instituts in Berlin ein spannender Anlaufpunkt.

AVE möchte „Impulse für den Bildungsbereich geben, damit Achtsamkeit und Empathie Teil der Schulkultur“ werden kann. Die Webseiten bieten eine hervorragend aufgemachte Fülle an Anregungen für Menschen, die sich einen ersten Überblick über Achtsamkeit verschaffen möchten, aber auch solche mit mehr Fachkenntnis und spezielleren Fragen.

Ganz hervorragend finde ich den Ansatz, dass AVE viele Berichte von Pädagog*innen bietet, in denen diese ihre ganz persönlichen Erfahrungen mit Achtsamkeit als Inspirationsquellen zur Verfügung stellen. Dabei hatte ich die Ehre, selbst von meiner Arbeit erzählen zu dürfen.

Eine wunderbare Initiative des AVE-Instituts ist auch die Online-Gemeinschaft Achtsamkeitspraxis für Pädagog*:innen. Jeden zweiten Mittwoch findet von 20-21 Uhr auf Zoom ein Treffen statt, auf dem Expert*innen einen kurzen Impulsvortrag zu ihrem Arbeitsgebiet halten und anschließend eine Achtsamkeitspraxis für die Anwesenden anleiten. Die Abende sind ein sehr gutes Forum, um Gleichgesinnte für unser Herzensthema ‚Transformation von Schule durch Achtsamkeit‘ kennen zu lernen und sich mit ihnen auszutauschen.

Unbedingte Surfempfehlung.

Pindo

Wache Schule: Mit Achtsamkeit zu Ruhe und Präsenz

Nach sieben Jahren Achtsamkeitsarbeit in der Schule bin ich mehr denn je davon überzeugt, dass diese besondere Spielart von Aufmerksamkeit uns einen wichtigen, wenn nicht den Schlüssel für die notwendige Transformation von Schule geben kann.

Nur, wie benutzen wir ihn am besten? Alle, die in der Schule arbeiten, wissen, mit wie viel Widerstand wir „in der Wagenburg“ auf die Experten von außen reagieren, die uns wieder mal erklären, wie wir unseren Beruf zu erledigen haben.

Und der Widerstand ist auch verständlich: In den vergangenen Jahren sind leider viel zu viele Borstenviecher durch die Schuldörfer getrieben worden. Die nächsten machen sich gerade im Rahmen des Digitalisierungspaktes startklar.

Die Folge dieser Erfahrungen ist, dass es auch externe Achtsamkeitstrainer*innen schwer haben wenn sie zu uns in die Schulen kommen. Und selbst, wenn sie ihren Job großartig machen bleibt die zweite Frage: Was bleibt, wenn sie wieder fort sind? Wie münden die wichtigen Impulse in nachhaltige Veränderungen?

Daher bin ich überzeugt: Wenn nicht wir Lehrer*innen und Erzieher*innen unsere Haltung verändern und den Impuls geben für eine Veränderung des Systems von innen heraus, wird gar nichts passieren. Entscheidend beeinflusst hat mich darin die langjährige, inspirierende Kooperation mit Sabine Heggemann von Fokus Achtsamkeit in Lüneburg, bei der ich Mind the Music kennen gelernt habe, diesen wunderbaren Ansatz, der Achtsamkeit mit Musik schülerkompatibel macht. (Weiterführendes hier.)

Kürzlich erschien nun ein Buch, das das Zeug hat, zu einer Bibel für uns achtsamkeitsinteressierte Lehrer*innen in Schulen zu werden: WACHE SCHULE: MIT ACHTSAMKEIT ZU RUHE UND PRÄSENZ.

„Wache Schule – achtsamkeitsbasierte Weiterbildung für ...

Die Autorin Susanne Krämer arbeitet am Zentrum für Lehrerbildung und Schulforschung der Universität Leipzig, wo sie seit 2013 Lehramtsstudent*innen mit Achtsamkeit als Grundlage für gelingende Kommunikation vertraut macht.

In der Einleitung zu WACHE SCHULE formuliert Susanne Krämer ihr Anliegen: Sie möchte den „Duft der Praxis“ vermitteln.

Es geht um alltagstaugliche Übungen, die Ihnen ermöglichen eigene Erfahrungen zu machen. Nur was Sie selbst kennenlernen, was Sie am „eigenen Leibe“ erfahren, wird Spuren in Ihrem Denken und Verhalten hinterlassen. Kommen Sie selbst auf den Geschmack! Oder wie der Neurowissenschaftler Gerald Hüther es formuliert: „Haltungen kann man nur verändern, indem man das verändert, was die Haltung hervorgebracht hat, nämlich die Erfahrung – Haltungen sind das Ergebnis von Erfahrung, sie bestimmen ganz entscheidend darüber, wie Menschen die Welt und das Geschehen um sie herum bewerten.“ (Krämer 2019: 14)

Und um Haltung geht es zuallererst. Denn: „Ihre eigene authentische Haltung ist die wichtigste Voraussetzung dafür, Achtsamkeit in die Schule zu bringen – wach zu werden für eine neue (Schul-)Kultur des Miteinanders (Krämer 2019: ebd).

WACHE SCHULE hat zwei Teile. In Teil 1 erhalten Lehrkräfte Hilfestellung dabei „DIE HALTUNG DER ACHTSAMKEIT“ einzuüben. Hier die zentralen Bausteine dieses Fundaments aus dem Inhaltsverzeichnis:

  • Bewusst im Hier und Jetzt
  • Der Übungsweg
  • Lernort Schule: Umgang mit schwierigen Emotionen
  • Stress lass nach – Entwicklung von Resilienz
  • Wohlbefinden – das Herzstück der Achtsamkeitspraxis
  • Empathie und Mitgefühl – die Schule des Herzens
  • Humor – eine Lebenskunst
  • Kommunikation
  • Netzwerke bilden – sich in der Praxis unterstützen.

Teil 2 gibt unter dem Titel ACHTSAMKEIT MACHT SCHULE Einblick in einen Werkzeugkasten, der uns unschätzbare Hilfe dabei leistet, das zu unserer Schule passende Achtsamkeitsangebot zu entwickeln. Auch hier die Gliederungspunkte des Inhaltsverzeichnisses als appetizer:

  • Die nötigen Voraussetzungen schaffen
  • Bausteine eines Achtsamkeitscurriculums
  • Einladung zu einer Forschungsreise
  • Basisübungen
  • Möglichkeiten der Reflexion
  • Stress und schwierige Emotionen
  • Wohlbefinden oder das Schulfach „Glück“
  • Empathie und Mitgefühl

Kennen gelernt habe ich Susanne Krämer im Frühjahr 2018. Sie war über diesen Blog auf meine Arbeit aufmerksam geworden und bat mich darum, ihr Buch durch ein Gespräch über meine Erfahrungen zu unterstützen. Außerdem führte sie ein langes Interview mit vier meiner Schüler*innen, die sich über mehrere Jahre eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis aufgebaut haben. Und so ist das Buch durchzogen von Gesprächsausschnitten mit praktizierenden Lehrkräften, Schüler*innen und Student*innen, die mosaikartig das Thema Achtsamkeit aus Sicht der Praktizierenden darstellen. Eine Schülerin aus unserer AG formuliert etwa:

Achtsamkeit (steigert) für mich die Lebensqualität in vielerlei Hinsicht (…). Weil du dir selbst einfach bewusster wirst, sowohl über die guten Dinge als auch über die schlechten. Aber du lernst dann, mit den schlechten besser umzugehen und die Guten mehr zu gewichten. Das hilft mir, in die Mitte zu kommen und den Fokus zu finden. Das gibt mir so viel an – wie gesagt – Lebensqualität und das ist ein sehr starkes Wort für mich. Aber ich meine das auch so: Das verbessert wirklich viel.“ (Krämer 2019: 36)

Solche Sätze zeigen mir, wie wertvoll unsere oft sehr anstrengende Arbeit mit Achtsamkeit in Schule ist. Diese Schülerin verändert – im Sinne von Gerald Hüther – ihre Erfahrung und darüber ihre Haltung zum Leben.

Am Ende formuliert Susanne Krämer einen AUSBLICK unter der Überschrift „SEINEN EIGENEN WEG FINDEN“. Sie bringt für mich nochmals den Wert von WACHE SCHULE auf den Punkt: Es ist durchwirkt von einer Haltung größten Respekts vor der Einzigartigkeit jeder Lebens- und Arbeitssituation, die es verbietet vorgefertigte Rezepte als Allheilmittel zu verordnen.

Es ist diese Haltung, die wir Agierenden in der Schule brauchen, um uns ernst genommen zu fühlen, die es uns erlaubt uns zu öffnen für eine veränderte Erfahrung, welche wiederum die Grundlage ist für jegliche nachhaltige Veränderung.

Unbedingt lesen!

Pindo

Blick eines Schülers auf den Schweinehund

Einer meiner Schüler berichtete kürzlich in der Mind the Music – AG von  seinem achtsamen Umgang mit dem inneren Schweinehund. Ich war so beeindruckt, dass ich ihn bat, seine Gedanken zu verschriftlichen. Hier ist das Resultat:

Für mich war es früher immer sehr schwer meinen inneren „Schweinehund“ zu überwinden. Ich will damit nicht sagen, dass ich nur faul rumgelegen habe, aber ich habe z.B. meine Pflichten immer sehr unmotiviert und schlecht gelaunt erledigt. So ging mir das manchmal sogar bei Hobbies, obwohl mir die ja eigentlich Spaß machen müssten.

Als Sie uns dann Achtsamkeit gezeigt haben, war ich erstmal ganz normal interessiert und habe  geguckt, ob das wirklich was für mich ist. Anfangs ging ich noch gar nicht davon aus. Nach den ersten positiven Erfahrungen kam ich in die AG, das war dann auch für mich die schwerste Zeit, da der Kritiker in mir immer wieder aufhören wollte. Irgendwann hatte ich dann eine richtig intensive Erfahrung und da habe ich gemerkt, dass ich danach viel klarer denken konnte und viel fokussierter war. Das half mir dann auch, meinen „Schweinehund“ zu überwinden: Ich habe ihn einfach immer wieder angeguckt, so, wie Sie uns das beigebracht haben und ich habe geguckt, ob da noch andere Gefühle sind.

So ähnlich mache ich das jetzt immer, wenn ich den Fokus verliere oder wenn ich schlecht gelaunt bin. Jetzt fällt mir das auch schon viel leichter als früher, und ich kann spontan aufkommende Gefühle, wie Wut und Ärger besser unter Kontrolle bringen. Früher war mir das nie gelungen, wenn ein Wutausbruch etwas heftiger wurde. Für diese Sachen benutze ich Achtsamkeit heute eigentlich immer und ich habe dadurch eine ganz neue Lebensqualität erlangt.

M.H.

Neurowissenschaft, Achtsamkeit und ein Auftrag

Die Erforschung von Achtsamkeit mit den Methoden westlicher Wissenschaft hat in den vergangenen Jahren beeindruckende Ergebnisse hervor gebracht. Inzwischen liegen gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse über den enorm positiven Einfluss auf die physische und psychische Gesundheit des Menschen vor.

Regelrecht spektakulär sind die Ergebnisse des Resource-Projekts, dem weltweit größten Forschungsprojekt zur Meditation,  das Tania Singer in den vergangenen Jahren am Max Planck Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig auf den Weg gebracht hat. Singers Forschungsteam zeigt, dass meditierende Menschen ihr Gehirn so umbauen, dass sie empathiefähiger werden.

Die Konsequenz: Egoistisches Denken, das die Menschheitsgeschichte seit Jahrtausenden dominiert und in unserem Zeitalter des globalisierten Kapitalismus mächtiger denn je erscheint, ist also prinzipiell überwindbar. Tania Singer ist davon so überzeugt, dass sie gemeinsam mit anderen Persönlichkeiten einen regelrechten Feldzug gegen die vorherrschende These, der Mensch sei zuallererst ein Homo Oeconomicus, führt und dabei selbst auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos Gehör findet. Für mich ist dies eine der wenigen Nachrichten, die mich derzeit mit ein wenig Hoffnung bezüglich der Zukunft unserer Spezies erfüllt.

Heruntergebrochen auf den Mikrokosmos der Schule leite ich aus den Erkenntnissen eine klare Legitimation, wenn nicht einen Handlungsauftrag für unsere Achtsamkeitsarbeit ab:

Wenn wir Schülerinnen und Schüler in achtsamer Wahrnehmung trainieren, dann helfen wir ihnen, sich selbst und den anderen mit mehr Empathie zu begegnen. Damit legen wir letztlich die Grundlage für eine bessere Zukunft.

Wissenschaftlich erwiesen – PUNKT

Wie kann aber eine nachhaltige Verankerung von Achtsamkeitsgedanken in ener öffentlichen Schule aussehen? Damit beschäftigt sich ein anderer Blogeintrag.

Pindo

 

 

Der Pfad der Achtsamkeit

Der Pfad

Wenn irgendjemand dich fragt, worum es bei dem Pfad geht,
Es geht um Großzügigkeit.
Es geht um Moral.
Es geht um Konzentration.
Es geht um Einsichten durch
fokussierte Selbstbeobachtung.
Es geht um das Kultivieren subjektiver Zustände
von Mitgefühl und Liebe, auf der Basis von Einsicht,
Und es geht um die Übertragung des Mitgefühls
und der Liebe auf Handlungen in der realen Welt.

Shinzen Young

Shinzen Young ist ein renommierter amerikanischer Lehrer für Vipassana-Meditation. Er ist Autor des faszinierenden Meditationssystems Basic Mindfulness, das auch in deutscher Sprache vorliegt. Basic Mindfulness bildet die theoretische Grundlage für die Achtsamkeitstrainings Mind the Music und Modern Mindfulness, die ich mit meinen Schülern einsetze.
Exzellente Einführungen in die gerade für westliche Menschen sehr gut zugängliche Basic Mindfulness gibt z.B. die Achtsamkeitstrainerin Sabine Heggemann aus Lüneburg. Sie bietet Kurse vor Ort oder auch über Telefon. Gerade letztere sind eine zwar ungewohnte, aber sehr spannende Erfahrung. Der nächste Kurs beginnt übrigens in wenigen Tagen. Interessierte finden hier nähere Informationen.

Pindo

Sich konzentrieren ist wie … Tubaspielen!

„Was tue ich, wenn ich lernen möchte, die Tuba zu spielen?“

Mit dieser Frage leitete Soryu Forall auf einem Retreat vergangene Woche in Lüneburg-Heiligenthal eine Reflexion ein, die mich immer noch elektrisiert. Die Antwort ist einfach: „Ich spiele die Tuba!“ Die sich anschließende Frage lautet: „Und was muss ich tun, wenn ich lernen möchte, mich zu konzentrieren? – Na klar, ich konzentriere mich!!

Verblüfft Sie die Analogie? Mich inzwischen nicht mehr. Ich habe in den vergangenen Monaten erfahren, dass Konzentration tatsächlich nicht etwa eine FÄHIGKEIT ist, die einige Menschen aus mysteriösen Gründen mehr haben als andere.  Es handelt sich vielmehr um eine FERTIGKEIT, die man relativ einfach erlernen kann, indem man sie immer wieder aufs Neue trainiert.

Den Weg hierzu kann etwa Modern Mindfulness weisen, ein Training zur achtsamen Wahrnehmung für Jugendliche , das auf Shinzen Youngs Ansatz der Basic Mindfulness basiert.

Shinzen Young erklärt achtsames Wahrnehmen als das Zusammenwirken der drei Faktoren Konzentration, Klarheit und Gelassenheit.

Unter Konzentrations-Kraft können Sie sich die Fähigkeit vorstellen, das zu fokussieren, was Sie zu einer bestimmten Zeit für relevant halten. Unter Sinnes-Klarheit können Sie sich die Fähigkeit vorstellen, den Überblick über das zu behalten, was Sie im jeweiligen Moment erfahren. Unter Gelassenheit können Sie sich die Fähigkeit vorstellen, den Sinnes-Erfahrungen zu erlauben zu kommen und gehen, ohne sie abzulehnen oder zu unterdrücken. (Shinzen Young, 5 Wege sich selbst besser kennen zu lernen, S. 9, Übersetzung: Sabine Heggemann)

Das Trainieren der Konzentrationskraft ist vom Prinzip her sehr einfach: Ich wähle einen oder mehrere Bereiche meines Wahrnehmungsapparats (Sehen-Hören-Fühlen),  richte ihn/ sie auf ein Objekt oder ein Ereignis innerhalb oder außerhalb von mir und halte die gewählte  Wahrnehmung so gelassen wie möglich aufrecht.

Mögliche Objekte der Wahrnehmung sind all die Dinge, die wir außerhalb von uns sehen, hören und fühlen, unsere Körperwahrnehmungen sowie unsere Gedanken (in Form innerer Bilder und Stimmen) und Emotionen.

Stelle ich schließlich fest, dass meine Gedanken begonnen haben, in die Vergangenheit oder Zukunft zu wandern,  was in der Regel sehr schnell passiert, nehme ich dies ruhig zur Kenntnis und kehre gelassen zum Objekt der Betrachtung zurück.

Dies ist der Kern des Konzentrierens als Lernvorgang: Ich fokussiere, werde abgelenkt, nehme dies wahr und kehre gelassen zum Fokus zurück, werde wieder abgelenkt, nehme wahr, kehre zurück, zehnmal, hundertmal, tausendmal, …

Soryu erwähnt in seiner Reflexion zwei weitere wichtige Punkte:

  1.  Konzentration als Fertigkeit nimmt auf exponentielle Weise zu. So hat man zunächst kaum den Eindruck, dass sich etwas ändert, mit der Zeit intensiviert sich die Konzentrationskraft dann aber in immer kürzerer Zeit immer mehr.
  2. Das Konzentrieren im beschriebenen Sinne erzeugt eine positive Feedbackschleife, die beim Übenden ein intensives Wohlgefühl auslöst. Konzentrierte Menschen sind also glücklicher.

Überlegen Sie bitte für einen Moment, wie oft Sie in Ihrem Leben  als Eltern, Töchter, Söhne, Lehrer/innen oder Schüler/innen schon folgenden Satz gehört oder selbst gesagt haben: „Mensch, jetzt konzentrier dich doch mal!“ – meist begleitet von einer ziemlich ausgeprägten Ungeduld.

ABER: Hat Ihnen jemals ein Menschen gezeigt, wie das geht – oder haben Sie dies getan?

Eingangs schrieb ich, dass mich Soryus Frage zum Tubaspielen elektrisiert hat. Warum? Für mich ist die Erkenntnis zum „Konzentrieren lernen“ vielleicht die wichtigste in meinem Lehrerdasein. Seitdem ich mit meinen Schülerinnen und Schülern und inzwischen auch einigen Kolleginnen und Kollegen Achtsamkeit übe, erfahren wir alle Tag für Tag, wie gut dies tut, uns und unserer Umwelt.

Achtsamkeit enthüllt hier ihre wahrlich transformierende Kraft.

Pindo.

Achtsamer Stundenbeginn

Achtsam eine Unterrichtsstunde beginnen? Bei mir funktioniert es in zwei kleineren Lerngruppen der Mittelstufe inzwischen so gut, dass die 14-jährigen Schüler mich selbst daran erinnern, wenn ich es einmal vergesse.

Das Ritual besteht aus einer fünfminütigen Achtsamkeitsübung, bei der mich eine Klangschalen-App auf meinem Smartphone untestützt. Die Klangschale leitet die Übung ein, markiert die Halbzeit nach zweieinhalb Minuten und signalisiert mit einem dreifachen Klang das Ende.

Wir setzen uns gerade hin, schließen die Augen oder lassen den Blick ins Leere gleiten. Dann nehmen wir drei tiefe Atemzüge, wobei wir bei jedem Einatmen bewusst die Wirbelsäule aufrichten und bei jedem Ausatmen den Körper zur Ruhe kommen lassen.

Anschließend lassen wir die Kontrolle des Atems los, suchen uns einen Ort im Körper, an dem wir ihn weiterhin besonders gut wahrnehmen (Wölbung von Brustkorb oder Bauchdecke, Lufthauch an der Nase) und gehen dazu über, den Atem nur noch zu beobachten.

Weiterhin senden wir mit unserem Geist dem Körper Signale. Jedes Einatmen ist ein Aufrichten, jedes Ausatmen ein Entspannen. Dies können die Schüler verstärken, indem sie mit ihrer inneren Stimme beim Atmen Botschaften formulieren: „Aufrichten … Entspannen..“.

Ich weise die Gruppe darauf hin, dass es völlig normal ist, wenn ihre Gedanken sich nach kurzer Zeit woanders hin begeben. Ich bitte sie, kurz festzustellen, wohin sie sich begeben haben und dabei möglichst gelassen und ohne zu werten vorzugehen. Dann holen sie ihren Geist zum augenblicklichen Fokus, dem Atmen und Entspannen zurück.

Nach etwa der Hälfte der Zeit bitte ich die Schüler, nun ihren Fokus zu ändern. Wir lassen das Entspannen in den Hintergrund treten und konzentrieren uns aufs Hören, verschmelzen mit unserem Hörsinn. Sie hören meine Stimme, Geräusche der Bewegungen von Mitschülern, das Scharren der Tische und Stühle im Raum über uns, Gespräche auf dem Gang, den Lieferwagen des Catering-Unternehmens auf dem Schulhof, Vogelzwitschern … und vermeiden dabei jede Wertung: „Da ist das Geräusch X … wir sitzen hier und hören …“

Nochmals bitte ich sie darum, ihre Gedanken gelassen zurückzuholen, wenn sie sich auf Wanderschaft begeben. Zum Ende gehe ich nochmals kurz zum Fokus Entspannen zurück und lasse die Klangschale die Übung beenden.

Die Wirkung dieser Übung beeindruckt mich immer wieder. Vorgestern,  an einem Freitag in der 7. Stunde (!) begann ich meinen Unterricht wieder auf diese Weise. Aus einer wuseligen, unkonzentrierten Teenie-Schar in verquatschter Vorwochenendstimmung wurde in den fünf Minuten eine deutlich entspanntere Gruppe, die die Ruhe im Raum sichtlich genoss und nun dazu bereit war, noch eine gute halbe Stunde konzentriert meinem Input zu Präpositionen und Ortsangaben im Spanischen zu folgen.

Für mich sind dies magische Momente im Beruf.

Übrigens basiert die Übung auf Inhalten von Modern Mindfulness, einem online-gestützten Programm, das Lehrkräften die Möglichkeit gibt, Achtsamkeitsimpulse auf einfache Weise in den Schulalltag einfließen zu lassen. Entwickelt wurde es am Center for Mindful Learning (Vermont / USA). Der Autor ist Soryu Forall, der „Erfinder“ von Mind the Music .

Derzeit existiert Modern Mindfulness nur in englischer Sprache. Eine deutsche Version ist geplant.

Pindo

Mind the Music – worum geht es?

Mind the Music bietet einen  Weg zur Achtsamkeit, der vier Aspekte schult, die im Leben der Jugendlichen eine zentrale Rolle spielen (sollten):

  • das Vermögen, sich zu entspannen,
  • die Fähigkeit zu fokussieren, festgemacht am achtsamen Zuhören
  • die Bereitschaft, eigene Gefühle kennen zu lernen und anzunehmen,
  • die Möglichkeit, sich echte Ziele zu setzen und sich auf den Weg zu machen, sie zu erreichen.

Musik hat in der Methode eine zentrale Bedeutung inne. Sie schlägt die Brücke zu den Jugendlichen, die schon viele Erfahrungen im Umgang mit Musik als Entspannungsinstrument mitbringen und so Vertrauen schöpfen. Und sie bietet in einer Gruppe von 35 DreizehnJährigen die notwendige Sicherheit, sich auf Achtsamkeit einzulassen. Denn: in Stille mit geschlossenen Augen beieinander zu sitzen und zu meditieren, ist kein besonders cooler Gedanke. Wenn die Schüler aber dasselbe machen sollen und dabei ein Lied ihrer Wahl hören dürfen, dann sind sie mit Begeisterung bei der Sache und zeigen große Offenheit, neue Erfahrungen zu machen und auch über diese zu sprechen.

Soryu Forall und Jugendliche aus seinen Kursen in Burlington / Vermont stellen die Grundelemente von Mind the Music in vier Videos eindrucksvoll dar. Das erste gebe ich unten wieder.

Soryu Forall und Mind the Music – Wege zur Achtsamkeit in meiner Schule

Vor Monaten hatte ich über meinen Wunsch geschrieben, Achtsamkeit auch Jugendlichen nahe bringen zu können. Damals war ich auf die Arbeit von Soryu Forall und Shinzen Young gestoßen. (Siehe hierzu diesen Beitrag.) Im Juni 2012 hatte ich die Möglichkeit, Soryu Forall an vier intensiven Tagen des Zusammenseins in Lüneburg kennen zu lernen. Er war für längere Zeit in Asien gewesen und kehrte nun über Deutschland nach Vermont zurück. In Lüneburg besuchte Soryu das von Sabine Heggemann geleitete Achtsamkeitsprojekt an der örtlichen Sekundarschule und hielt einen Vortrag an der Universität Leuphana.

Soryu Forall, heute Mitte 30, geboren als Teal Scott in Vermont / USA. verließ mit 19 Jahren seine Heimat, um, wie er selbst schreibt, seinen persönlichen Beitrag zur Beendigung des Leidens in der Welt zu leisten. Er ging nach Japan in ein Zen-Kloster und wurde dort zum buddhistischen Mönch geweiht. Später lebte und arbeitete er zunächst in Südindien, wo er mit Kindern aus Familien der untersten Kasten arbeitete und sich für deren Rechte einsetzte. Anschließend praktizierte er an einem tibetischen Kloster in Nordindien und schließlich in Ostchina. Zurück in den Vereinigten Staaten konzentrierte er sich auf die achtsame Arbeit mit Jugendlichen und entwickelte schließlich das Programm Mind the Music.

Der Titel Mind the Music beschreibt die Essenz des Ansatzes: Soryu überwindet die Hemmungen junger Menschen, sich einem Beieinandersitzen in Stille zu öffnen, indem er sie dazu einlädt, gemeinsam mit ihm ihre Musik zu hören, die Musik, die ihnen immer schon hilft, ihren persönlichen Alltag zu genießen und zu verkraften. Sie gewinnen so Vertrauen und lassen sich auf neue Erfahrungen ein, Erfahrungen der Entspannung, Erfahrungen der Konzentration, Erfahrungen des Lauschens auf die eigenen Gefühle, Erfahrungen, wie ich das eigene Leben in Angriff nehmen kann.

Die Begegnung mit Soryu hat mein Leben verändert, wie die Achtsamkeit insgesamt, ganz sanft, unspektakulär, nachhaltig. Seit August 2012 vermittle ich Jugendlichen an meiner Schule Achtsamkeit mit der Hilfe von Mind the Music. Und die Dinge nehmen ihren Lauf.

Am Anfang stand ein Intensivtraining, das ich mit Erlaubnis der Schulleitung und der Eltern in meiner eigenen Klasse, einer Gruppe von 35 wirbeligen Jugendlichen im Alter von 13 und 14 Jahren, absolvierte. Es stieß bei praktisch allen Teilnehmern auf großes Interesse und brachte eine ganz neue Qualität in unsere Beziehung zueinander. Problematisch war nur, dass die Einheiten in meinem eigenen Fachunterricht stattfanden und ich die Intensität der Übungen nicht über das ganze Schuljahr aufrecht erhalten konnte. Daher wechselte ich meine Strategie und machte im Rahmen unserer Projekttage zum Schuljahresende ein neues, freiwilliges Angebot für Schüler aller Klassenstufen, Mind the Music an drei Tagen kennen zu lernen. Rund 20 Schüler ließen sich darauf ein und reagierten ausgesprochen positiv.  Seit Beginn des neuen Schuljahres im August 2013 leite ich nun eine eigene Mind the Music-AG. Nach drei Sitzungen hat sich ein fester Teilnehmerkreis von 8 Schülern etabliert. Bisher sind jedesmal auch mehr, neugierige Freundinnen und Freunde dazu gekommen.

Jedoch ist dies noch nicht alles. Ich koordiniere die Steuergruppe an unserer Schule, in der sich Eltern, Schüler und Lehrer gemeinsam mit der pädagogischen Fortentwicklung der Schule beschäftigen. Als das Thema der Entwicklung eines neuen Leitbildes aufkam, schlugen die Eltern vor, den Begriff der Achtsamkeit künftig zu einer der Leitideen unseres Zusammenlebens zu erheben. Der Vorsitzende der Gesamtelternvertretung, Chefarzt an einer psychiatrischen Klinik und Vater einer Tochter in meiner Pilotklasse aus dem vergangenen Schuljahr, berichtete von ausgesprochen positiven Erfahrungen mit Achtsamkeit in seinem eigenen Krankenhaus und regte an, die Schulgemeinschaft für dieses Thema zu sensibilisieren.  Ermutigt hatten ihn dazu offensichtlich die positiven Schilderungen seiner Tochter, die im vorherigen Schuljahr in meiner Pilotklasse war und sehr positiv von Mind the Music erzählt hatte.

Ich war sprachlos, gerührt, begeistert zugleich. Allerdings erfüllte mich auch großer Respekt davor, diese Idee in die Mitte unserer großen, sehr heterogenen Schulgemeinschaft zu tragen. Vergangenen Donnerstag habe ich dazu nun den ersten Schritt unternommen. Während eines Studientages, auf dem sich das Lehrerkollegium mit der Weiterentwicklung unserer Schule beschäftigte, leitete ich die AG zur Leitbild-Entwicklung. In drei Stunden gelang es unserer Gruppe einen Konsens über ein künftiges Leitbild zu entwickeln, das aus dem Dreiklang GEMEINSAM – TRANSPARENT – ACHTSAM besteht. Nur wenigen war der Begriff der Achtsamkeit im engeren Sinne schon geläufig. Es herrschten auch einige Zweifel, ob eine Schule es sich leisten könne, sich mit einem solch ungewöhnlichen Begriff nach außen hin zu positionieren. Schließlich siegte bei allen jedoch die Hoffnung auf Entschleunigung im Alltag, die sie sich nach meinen einführenden Schilderungen von Achtsamkeit offensichtlich versprachen.

Wir sind also auf dem Weg. Unglaublich.

MBSR – Einblicke in eine Sitzung

Bereits in der ersten Sitzung wusste ich nach kurzer Zeit, dass dieser MBSR-Kurs genau das war, wonach ich gesucht hatte. Wir waren eine recht kleine Gruppe, 6 Teilnehmer und die Leiterin. Von Beginn an beeindruckte mich die Ruhe und das Vertrauen, mit der wir alle miteinander umgingen. In meiner Gruppe waren u.a. drei Ärzte und eine Frau, die im Altenpflegebereich als Ausbilderin tätig war. Ich war erleichtert, dass ich der einzige Lehrer war, da ich wenig Lust verspürte, in dieser für mich ganz neuen Umgebung immer wieder mit den Problemdiskursen konfrontiert zu werden, die ich aus dem Lehrerzimmer jeden Tag schon zur Genüge kannte.

Wir legten schnell die Scheu ab und sprachen ganz offen über all das, was uns  in diesen schönen Raum auf die Meditationskissen geführt hatte. Dieser offene Austausch über unseren Alltag, der bis zu eine Stunde dauern konnte, wurde für mich fast genau so wichtig wie all die Techniken, die ich erlernte. Ich empfand es als großes Privileg, einen Einblick in die intimsten Alltagssorgen eines Chirurgen zu bekommen und spürte enormen Respekt vor der alltäglichen Notwendigkeit in diesem Beruf, Entscheidungen zu fällen, die über Leben und Tod entschieden. Diese so ganz anderen Erfahrungen, an denen ich teilhaben durfte, entspannten mich erstaunlicherweise – vielleicht, weil sie meine eigenen Stressmomente relativierten? Gleichzeitig genoss ich es selbst, in dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft aus lauter Fremden, die dennoch so vertrauensvoll miteinander umgingen, über meine Aggressionen und die großen Anforderungen in meinem beruflichen und privaten Leben zu sprechen.

Der Kurs war so aufgebaut, dass wir in jeder Woche verschiedene Meditations- und Yogatechniken erlernten und diese jeweils auf eine unterschiedliche „Innere Haltung“ bezogen. So beschäftigten wir uns nacheinander mit den folgenden acht zentralen Aspekten der Meditation:

  • Nicht-Urteilen
  • Geduld
  • den Geist des Anfängers bewahren
  • Vertrauen
  • Nicht-Greifen
  • Dankbarkeit
  • Loslassen
  • Entschlossenheit

Zu jeder inneren Haltung hörten wir kurze Einführungsvorträge unserer Kursleiterin Karin Wolf, lasen inspirierende Texte von Meditationslehrern, Dichtern oder Mystikern unterschiedlicher Weltreligionen, setzten die Impulse in verschiedenen Meditationsformen um und sprachen anschließend über unsere Erfahrungen. Zudem erhielten wir einen Reader mit weiteren Texten für die Lektüre zuhause sowie jeweils den Auftrag, die neu kennen gelernten Techniken täglich zu üben. Ich las außerdem kursbegleitend das Buch Gesund durch Meditation von Jon Kabat-Zinn. Mit der Lektüre dieses Werkes, das eine Art Leitfaden für den MBSR-Kurs darstellt, hatte ich bereits vor Kursbeginn begonnen. Ich denke, dass das Lesen mit dazu beigetragen hat, dass ich die Kursinhalte so gut umsetzen konnte.

Von größter Bedeutung war allerdings, dass es mir tatsächlich gelang, die von allen Kursteilnehmern erwartete Bereitschaft aufzubringen, täglich für mindestens 45 Minuten zu meditieren. Denn das begriff ich rasch: Meditation ist kein Glaube, kein Nachbeten großer Weisheiten, die irgendwelche Gurus formulieren, sondern in erster Linie die eigene Erfahrung, die Praxis, das Nach-Innen-Hören und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse über dich selbst und dein Leben – und dies war es, was mich am meisten daran faszinierte: die Souveränität, die ich mit diesen Erfahrungen plötzlich über mein Leben erhielt.

Pindo