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Das Lächeln einer Träne

Kürzlich war ich in Barcelona, mit 30 Schülerinnen und Schülern. Wir genossen es, uns durch diese großartige Stadt treiben zu lassen und experimentierten auch – ganz offiziell, im Rahmen eines EU-geförderten Projekts – mit Achtsamkeit.

An einem Nachmittag besuchten wir die Fundación Joan Miró. Dort gab ich den Schülern die Möglichkeit, eine Stunde lang durch die Ausstellung zu streifen und eigene Schwerpunkte zu setzen.

Leider stellte ich dann nach relativ kurzer Zeit fest, dass eine größere Schülergruppe sich auf einer Sitzgruppe versammelt hatte und an den Handys spielte. Schon zuvor hatte ich mehrfach höhnisches Lachen und prustendes Gekicher von einzelnen vernommen, als sie vor einem Bild standen und ich fragte sie, was los sei, ob ihnen die Bilder nicht gefielen.

Die Schüler wollten höflich sein und trauten sich nicht recht, ihre Meinung kundzutun. Mir war klar, dass die in irgendeiner Variation eines Urteils bestand wie: „Das soll Kunst sein? Das kann doch meine kleine Schwester besser!“ Darauf lächelte ich sie an und sagte: „Ihr macht einen Fehler: Ihr wollt diese Bilder VERSTEHEN. Aber das funktioniert nicht. Euer Verstand bekommt das nicht hin und urteilt: ‚SCHWACHSINN!‘ Und damit ist das Thema für Euch erledigt. Wenn Ihr wollt, dann gebt Joan Miró noch eine Chance. Aber diesmal SCHAUT Ihr einfach nur und versucht, die Bilder zu FÜHLEN. Und wenn sich der Verstand meldet, dann ignoriert sein Urteilen und macht einfach weiter.“

Ich ließ die Gruppe an ihrem Ort und setzte meinen Rundgang fort. Bald darauf sah ich mit Freude, dass mehrere sich tatsächlich wieder auf den Weg gemacht hatten und vor Bildern standen. Anschließend schrieb eine meiner Schülerinnen einen Text, der für mich ein großartiges Zeugnis für die Kraft einer AUßEN SEHEN – Meditation ist. Er handelt vom folgenden Bild mit dem Titel La sonrisa de una lágrima, zu Deutsch: Das Lächeln einer Träne:

Die Schülerin schreibt dazu:

Ich habe mir die Sätze meines Lehrers zu Herzen genommen und es umgesetzt. Dann hab ich mir ein Kunstwerk ausgesucht und es mehrere Minuten lang betrachtet. Das Gemälde trug den Titel „La sonrisa de una lágrima“. Zu Beginn erschien es mir so, als hätte das Gemälde keinen Zusammenhang mit dem Titel. Doch während des achtsamen Sehens erkannte ich kleine Details und habe versucht die Vorgehensweise des Künstlers nachzuvollziehen. Zum Beispiel habe ich gesehen, dass das Gemälde durch eine hauchdünne, kaum sichtbare Mittellinie getrennt wird. Die Farben, die Miró benutzt, sind oberhalb der Mittellinie eher schwach, unterhalb dagegen kräftig. Außerdem ist mir aufgefallen, dass viele seiner Kunstwerke größtenteils nur aus den Komplementärfarben (blau, rot, grün, gelb) bestehen. Die Träne befindet sich oberhalb bzw. auf der Mittellinie. Daraus schließe ich, dass es nur eine hauchdünne Linie zwischen Lächeln und Tränen gibt.

Eine hauchdünne Linie zwischen Lächeln und Tränen. Ja, genauso ist oft das Leben. Danke, Ilayda, für Deine Beharrlichkeit und für diesen schönen Text.

Pindo

Ein achtsamer Blick auf den Schulhof

Vor einigen Wochen habe ich die Schülerinnen und Schüler in meiner Achtsamkeits-AG in eine Technik der Sehmeditation eingeführt. Das Vorgehen ist einfach: Wir nehmen uns vor, „ganz Auge zu sein“, das heißt, den Fokus für mehrere Minuten exklusiv aufs Sehen zu richten. Immer, wenn wir uns bewusst werden, dass unsere Gedanken abschweifen, reagieren wir darauf mit wohlwollender Aufmerksamkeit und erneuern dann unseren Fokus des Sehens. Einigen hilft es, den Fokus zu intensivieren, indem sie sich mit ihrer mentalen Stimme in einem Rhythmus von mehreren Sekunden immer wieder aufs Neue sagen: „Sehen! … Sehen!…“.

Ausgangspunkt für diese spontane Übung war die Frage eines Teilnehmers, ob ich einen Tipp habe, wie er seinen „inneren Schweinehund“ überwinden könne, wenn er – wie so oft – keine Lust habe, mit den Hausaufgaben zu beginnen.

Ich schlug darauf hin diese Sehmeditation vor. Wir begannen, indem wir für 3 Minuten den Tischen, an denen wir saßen, unsere volle Aufmerksamkeit widmeten. Anschließend berichteten alle Schüler, dass sie nach kurzer Zeit begannen, Dinge zu entdecken, die sie vorher nicht gesehen hatten. Die Folge war, dass sie dann anschließend mit gesteigertem Interesse auf die Suche nach weiteren Details gingen, die ihnen vorher entgangen waren.

Ich half ihnen, zu verstehen, dass sie da eine eigentlich sehr bedeutsame Erfahrung gemacht hatten. Es war ihnen nämlich gelungen, aus dem Nichts heraus Interesse an einem zunächst völlig banalen  Gegenstand zu entwickeln. Dieses faszinierende Phänomen habe ich erstmals durch die Unterweisungen von Soryu Forall, dem „Erfinder“ der Achtsamkeitsprogramme MIND THE MUSIC und MODERN MINDFULNESS kennen gelernt. Er zeigt Jugendlichen, dass sie sich so ganz einfach selbst motivieren können. Für die meisten Jugendlichen, die in der Schule selten wissen, warum sie das alles tun sollen, kann die Entwicklung dieser Fähigkeit einen entscheidenden Impuls für mehr Erfolg und Zufriedenheit in ihrem Leben geben.

Dann bat ich die Teilnehmer/innen, aus dem Fenster zu sehen und für ein paar Minuten nichts anderes zu tun, als den Blick auf den Schulhof (vgl. Foto) zu richten und den Fokus immer wieder zu erneuern. Wir sahen:

Bäume über Bäume,
die aus der Erde empor wachsen,
hunderte verschiedener Töne von
Grün, Gelb und Braun,
tausende herumschwirrender Marienkäfer,
schemenhafte Schornsteine im Dunst am Horizont,
die Mäander einer Weinranke auf einer Hauswand,
Saugnnäpfe einer Pflanze
direkt vor uns im Fensterrahmen

Anschließend ergab der Austausch, dass alle Meditierenden das fokussierte Sehen als extrem angenehm empfunden hatten. Es führte zu regelrecht wohligen Körpergefühlen. Ein Schüler berichtete außerdem, wie ihn die Saugnäpfe der Pflanze vor ihm (vgl. Foto) faszinierten und dass er zunächst den Impuls hatte, sie abzureißen, dann aber zu dem Schluss kam, das man so etwas Schönes nicht einfach zerstören dürfe.

Solche Erfahrungen zeigen mir immer wieder aufs Neue wie wichtig es ist, Jugendliche an die Achtsamkeit heranzuführen. Sie kommen durch diese Übungen mit sich selbst in Kontakt. Sie lernen, ihr eigenes Wohlempfinden zu steigern, indem sie in sich hinein fühlen oder die Umgebung, in der sie sich befinden, achtsam wahrnehmen. Und sie lernen Empathie – und sei es mit den Saugnäpfen einer Pflanze, die zu einem Wundwerk der Schöpfung wird.

Solche Jugendliche brauchen wir, heute mehr denn je.

Pindo

PS: Diese Sehmeditation habe ich bei meiner Beschäftigung mit Shinzen Youngs inspirierendem Meditationssystem Basic Mindfulness kennen gelernt. Interessierte finden hier weitere Hinweise und sehr wertvolle Übungsanleitungen.

Begegnung mit mir – eine Sehmeditation

Eine weitere Begegnung mit mir in der Rinde eines Baumes. Sie bietet den Anlass für eine kurze Sehmeditation, wie ich sie in der letzten Zeit häufiger mache. Der Ablauf ist einfach:

„Blicke auf das Bild, konzentriere dich ganz auf deinen Sehsinn …
Sobald du merkst, dass deine Gedanken fortfliegen, nimm dies gelassen zur Kenntnis und richte den Fokus wieder auf das, was du siehst … immer wieder, so lange du magst.
Öffne dich für die Emotionen, die dabei in dir aufsteigen und nehme sie wohlwollend zur Kenntnis.
Benenne jede Emotion kurz mit deiner inneren Stimme, achte darauf, wie lange sie anhält, wann sie abebbt, welche Emotion nachfolgt…“

In dieser Meditation kombiniere ich die Techniken des „Feel In“ und „See Out“ aus Shinzen Youngs umfassenden Achtsamkeitsmodell Basic Mindfulness.

Beispiele von Emotionen und Konzepten, die in mir aufstiegen, stehen unter dem Bild. Ich freue mich über Ihre Beiträge als Kommentar.

Häuptling

 

Frieden … Dankbarkeit … Ruhe … Liebe …Traurigkeit … Weisheit …

Pindo