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Engel der Achtsamkeit?

Manche Schultage haben es in sich – so auch der gestrige. Vor der ersten Stunde, auf dem Weg in meine Klasse, hält mich eine Kollegin an und berichtet mir von einer aggressiven Reaktion eines meiner Schüler gegenüber einem Jüngeren. Die Attacke war so intensiv, dass der andere, auch kein Kind von Traurigkeit und hart im Nehmen, mit Übelkeit nach Hause gehen musste.

Ein anderer Kollege, der das Gespräch mit bekommt, berichtet mir von einer weiteren Attacke, die Tage zuvor in seinem Unterricht passiert war. Der selbe Junge hatte eine Mitschülerin so massiv gegen einen Tisch gestoßen, dass diese sich vor Schmerzen krümmte… Ich war sehr verwundert, zumal der Schüler noch niemals mit Aggressionen aufgefallen war.

In der Klasse kommt eine Schülerin auf mich zu und berichtet mir, dass sie seit Tagen eine Auseinandersetzung nach der anderen hat – und zwar mit demselben Jungen. Es war sonnenklar, dass da irgend etwas nicht stimmen konnte. Spontan stellte ich meine Unterrichtsplanung um, gab der Klasse einen Arbeitsauftrag und bat meinen dreizehnjährigen Kampfsportler zu einem Gespräch in einen Extraraum. Auf meine Frage, was denn los sei, ob er vielleicht zuhause Schwierigkeiten habe, fing der Junge zunächst an zu zittern und dann herzzerreißend zu schluchzen. Nach ein paar Minuten hatte er sich so weit beruhigt, dass er mit leiser Stimme hervorbrachte: „Keine Ahnung, vielleicht hat es damit zu tun, dass ich so wütend bin. Meine Mutter hat nämlich wieder Krebs…“

In solchen Momenten bin ich besonders glücklich über meine Achtsamkeitspraxis. Mehrfach durfte ich schon erfahren, dass mir – im Gegensatz zu früher – nun einfach spontan die richtigen Worte einfallen. Ich atmete mehrfach achtsam ein und aus, konzentrierte mich auf das Weinen des Jungen und begann langsam und ruhig mit ihm zu sprechen. Ich äußerte Verständnis für sein Verhalten und spendete Trost soweit das in solch einem Fall möglich ist. Auch brachte ich den Jungen dazu, sich einem Klassenkameraden anzuvertrauen, damit er mit seinen Gedanken nicht mehr allein herumlaufen musste. Außerdem sagte ich ihm, dass er allen Grund hatte, wütend zu sein, dass wir aber natürlich auch darauf achten mussten, dass er seine berechtigte Wut nicht an Unbeteiligten ausließ. Er stimmte mir sofort zu und schlug selbst vor, sofort in der Pause in die Klasse seines Kontrahenten zu gehen und sich zu entschuldigen. Ich fand die Reaktion sehr beeindruckend, wenn mich auch stutzig machte, dass der Junge sich gar nicht genau an den Vorfall erinnern konnte.

Am späten Vormittag sahen wir uns wieder. Mein Schüler berichtete mir nun, er habe mit dem jüngeren Kameraden gesprochen und dabei habe sich heraus gestellt, dass das Ganze eine Verwechslung war. Ein anderer Schüler, der meinem Schützling ähnlich sah, hatte den Angriff ausgeführt…

Was war da nur passiert? Ein Junge steht mit seinem Schmerz und seiner Angst allein da, hat niemandem, mit dem er sich austauschen kann. Dann führt eine falsche Verdächtigung dazu, dass er sich öffnet, sein Herz erleichtert und zu reden beginnt – zunächst mit seinem Lehrer und anschließend mit einem Klassenkameraden. Er hat nun meine Handynummer für alle Fälle und steht nicht mehr allein da.

Am Ende des Schultages kommt der Junge extra noch einmal zu mir, um mir in aller Form zu danken und mir ein schönes Wochenende zu wünschen.

Und auch ich sage Danke an … tja an wen eigentlich…?

Genau: an den Engel der Achtsamkeit!

Pindo

Vermont – Lüneburg – Berlin – Der Weg entsteht beim Gehen…

Bei der Suche nach einem geeigneten Weg zur Achtsamkeit für meine Schüler stieß ich im Netz schnell auf die faszinierende Arbeit von Shinzen Young, Soryu Forall sowie auf das von ihnen begründete Center for Mindful Learning in Vermont / USA. In einer kurzen Email nach Vermont schilderte ich mein Anliegen, ein geeignetes Achtsamkeitstraining für Jugendliche an einer deutschen Schule etablieren zu wollen und schon wenige Tage später wies mir die Antwort den Weg, den ich nur noch zu beschreiten brauchte:

Ich erfuhr, dass Soryu Forall, der Initiator des Mind The Music-Programmes, im Sommer 2012 in Lüneburg zu Besuch sei, um sein Programm vorzustellen und mit deutschen Schülern zu arbeiten. Für alles Weitere sollte ich mich mit Sabine Heggemann, der Repräsentantin des CML in Deutschland in Kontakt setzen. Schon im ersten Telefonat reagierte Sabine Heggemann mit Begeisterung auf mein Interesse. Ich spürte sofort, dass ich eine Verbündete im Geiste getroffen hatte. Offensichtlich gab es also bereits eine Gruppe von Menschen, die ähnliche Ideen wie ich hatte, und nun erhielt ich die Möglichkeit, sie kennen zu lernen. Wie wunderbar!

Sabine erläuterte mir die Grundzüge von Mind the Music sowie den Ansatz der Basic Mindfulness von Shinzen Young, auf dem das Konzept aufbaute. Sie lud mich ein, Shinzens Ideen in einem Telefon-Konferenz-Kurs kennen zu lernen, den sie ab der kommenden Woche erstmals abhalten wollte. (Eine faszinierende Erfahrung, über die ich in einem späteren Beitrag schreiben werde.) Außerdem lud sie mich herzlich ein, im Juni nach Lüneburg zu kommen und Soryu bei der Arbeit mit Schülern zu begleiten. Sabine hatte Anfang des Schuljahres ein Pilotprojekt zur Einführung von Achtsamkeitselementen an der Integrierten Gesamtschule Lüneburg gestartet und Soryu wollte nun für drei Tage mit ihren Gruppen arbeiten. Die Aussicht begeisterte mich, ich hatte nur das Problem, das Soryus Anwesenheit in Lüneburg in den Zeitraum der letzten beiden Schultage vor den Sommerferien in Berlin fiel. Ich war Klassenlehrer und konnte mir kaum vorstellen, dass meine Schulleitung mit Begeisterung auf mein Ansinnen reagieren würde, während der letzten beiden Unterrichtstage auf Dienstreise gehen zu wollen. Dennoch rief ich bald darauf meinen Schulleiter an, erzählte ihm von meinem Vorhaben und der unglücklichen Terminkonstellation – und … stieß auf großes Interesse, Wohlwollen und eine Dienstbefreiung.

Se hace camino al andar.     Der Weg entsteht beim Gehen.

Pindo

Vor der Achtsamkeit: das Hamsterrad

Die Krisensymptome nahmen irgendwann Überhand. Im beruflichen Bereich hatte ich das Gefühl, den Aufgaben nicht mehr gerecht zu werden, weswegen ich meine Arbeitszeiten immer weiter ausdehnte – zum Schluss sogar auf den frühen Morgen ab 5 Uhr. Dennoch wurde ich nie fertig. Wie auch? Fertigwerden ist nicht vorgesehen im Lehrerberuf und objektiv auch gar nicht möglich. Dazu rührt man einfach in zu vielen Leben gleichzeitig. In der Schule rannte ich von morgens früh bis zum Nachmittag ohne wirkliche Pause von Unterrichtsstunde zu Unterrichtsstunde. Unterrichten ist Hochleistungssport. 35 13-jährige Pubertierende saugen einem die Energie in einer Doppelstunde Englisch buchstäblich aus dem Körper, egal wie positiv sie dir gegenüber stehen. In den Pausen zwischen den Stunden dann noch Kopieren, Schülergespräche zu Banalitäten, aber auch menschlichen Abgründen, Abstimmungen mit Kollegen und der Schulleitung – oft in einer Taktfrequenz, bei der ich nicht Zeit für die elementarsten Dinge wie etwa Trinken fand.

Ich bin Lehrer mit Leib und Seele. Und deshalb quälte es mich, dass ich in all den banalen organisatorischen Dingen, die meinen beruflichen Alltag füllten, nicht die Zeit für die wirklich wichtigen Dinge fand. Zeit für individuelle Beratungen von Schülern etwa, die an der deutschen Schule nicht eingetaktet ist. Sie geht immer zu Lasten der vielen anderen Pflichten, oftmals furchtbar bürokratischer Art, die dennoch erledigt werden müssen.

So verließ ich die Schule regelmäßig mit einem Gefühl der Unzufriedenheit und Ohnmacht. Auf dem Weg nach Hause, wenn auf dem Fahrrad der Adrenalinspiegel sank, fielen mir  buchstäblich die Augen zu. Trotzdem fing in meinem Kopf dann schon der innere Perfektionist als Zuchtmeister an zu zetern und mich daran zu erinnern, dass ich am Nachmittag noch sechs Stunden für den nächsten Tag vorzubereiten hatte. Kurz darauf meldete sich mein schlechtes Gewissen lauthals zu Wort und erinnerte mich an meine väterlichen Pflichten: In einer Stunde kamen die Kinder aus Schule und Kindergarten und wollten mit Papa spielen. Wenn ich mich mit dem Mittagessen beeilte, konnte ich sie vielleicht sogar noch selbst abholen.

Alles floss ineinander. Meine ganze Familie litt mit mir, unter den inneren Streitereien zwischen Zuchtmeister und Moralapostel, weil ich nur ganz selten wirklich geistig anwesend war. Während ich vorgab, mit den Kindern Memory zu spielen, flogen meine Gedanken schon zum Schreibtisch. Hatte der Zuchtmeister gewonnen und ich mich losgeeist, nörgelte am Schreibtisch das schlechte Gewissen wieder los, störte meine Konzentration und zog die Unterrichtsvorbereitungen dadurch unnötig in die Länge.

Ich führte ein Leben als Teufelskreis, im Hamsterrad, in der Tretmühle – und hatte mich in mein Schicksal gefügt.

Pindo