Auf dem Weg zur achtsamen Schule

Die westliche Neurowissenschaft hat in den vergangenen Jahren nachgewiesen , dass Achtsamkeit für den einzelnen Menschen wie auch für die gesamte Gesellschaft von größter Bedeutung sein kann: Menschen mit einer eigenen Praxis tun etwas für ihre eigene körperliche und geistige Gesundheit und zeigen mehr Empathie für ihre Mitmenschen. In einem meiner letzten Blogeinträge habe ich mehr darüber geschrieben.

Das WARUM ist also zweifelsfrei geklärt. Achtsamkeitsarbeit in der Schule ist von höchster gesellschaftlicher Relevanz. In unserer Zeit der Wissenschaftsgläubigkeit ist diese Erkennntnis sehr bedeutsam. Sie gibt allen Menschen, die wie ich daran arbeiten, Schule mit Achtsamkeit zu transformieren, eine wichtige Argumentationsbasis und eine sichere Grundlage für unser Handeln.

Damit stellt sich die Frage des WIE? Wie kann es gelingen, eine nachhaltige Achtsamkeitskultur in einer Schule zu etablieren? Nach vier Jahren eigener Erfahrungen mit diesem Projekt stelle ich die folgenden Thesen als Zwischenfazit meiner Arbeit zur Diskussion:

  • Schule ist eine Gesellschaft, in der Menschen (Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, Eltern) miteinander leben und arbeiten. Diese Gesellschaft lebt in einer chronischen Krise, weil sie die Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht erfüllt. Sie steht unter permanenter Beobachtung, wird fortlaufend kritisiert und  durch Einflussnahme von außen willkürlich verändert.
  • Beobachtung, Kritik und Einflussnahme belasten die schulische Gesellschaft sehr. Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Schülerinnen und Schüler fühlen sich überfordert und nicht wertgeschätzt . Viele reagieren auf weitere Reformvorschläge von außen zynisch oder zumindest mit einem grundsätzlichen Misstrauen.
  • Achtsamkeit kann man nicht VERSTEHEN, ich kann niemanden von Achtsamkeit ÜBERZEUGEN. Wenn ein Mensch nicht bereit ist, Achtsamkeit zu ERFFAHREN und dadurch ihre Bedeutung für sich selbst zu entdecken, dann bleibt sie für ihn banal.
  • Achtsamkeit ist eine besondere Form der Wahrnehmung von Wirklichkeit, die erlernt werden kann und regelmäßig praktiziert werden muss, wenn sie nicht wieder verloren gehen soll.
  • Eine Achtsamkeitspraxis hat notwendigerweise zwei Komponenten:
    • eine FORMELLE Praxis, in der ich die neue Form der Wahrnehmung wie in einer Art geistigem Fitness-Studio täglich trainiere,
    • eine INFORMELLE Praxis, bei der ich das Trainierte in meinen Alltag einfließen lasse und dann feststelle, wie ich mich Schritt für Schritt verändere.

Aufgrund dieser Überlegungen ergeben sich für mich die folgenden Bausteine für eine achtsame Schulkultur:

  • In einer achtsamen Schule haben Lehrer, Schüler und Eltern die Möglichkeit, Achtsamkeit regelmäßig FORMELL zu praktizieren. Die Schule organisiert regelmäßig
    • Einführungsveranstaltungen (z.B. viermal im Schuljahr), in denen die Grundlagen der formellen Praxis vermittelt werden.
    • (möglichst tägliche) kurze Zeitfenster für eine kurze formelle Praxis zwischendurch, z.B.
      • eine „achtsame Viertelstunde“ in der Mittagspause
      • Sitzmeditationen vor Konferenzen.
  • Lehrerinnen und Lehrer beeinflussen mit ihrem Handeln eine Schule nachhaltig. Insofern kommt ihnen beim Aufbau einer Achtsamkeitskultur eine besondere Bedeutung zu. Bei allen Angeboten für sie steht der Gedanke des „Sorgens für mich selbst“ im Vordergrund:
    „Mit Achtsamkeit kann ich etwas für mich tun, indem ich lerne, der Wirklichkeit, die ich nicht ändern kann, anders zu begegnen.“
  • Alle Angebote für Lehrerinnen und Lehrer sind freiwillig. Die Praktizierenden unter ihnen treten in Austausch darüber, wie sie ihre tägliche Routinearbeit mit Elementen informeller Praxis transformieren und stützen sich so gegenseitig.
  • Besonders interessierte Lehrerinnen und Lehrer werden ermuntert und finanziell dabei unterstützt, eine Fortbildung zum Achtsamkeitstrainer für Jugendliche zu machen. Das bei uns eingesetzte Programm Mind the Music ist dabei eine von mehreren Möglichkeiten.
  • Zertifizierte Lehrkräfte informieren ihre Klassen über das Programm. Eltern und Schüler/innen entscheiden gemeinsam, z.B. mit Zweidrittelmehrheit, über ihre Durchführung.
  • Vereinbarte Klassenprogramme sind für alle verpflichtend, aber zeitlich begrenzt. Dadurch wird gewährleistet, dass alle Schülerinnen und Schüler die Erfahrung der Achtsamkeit zunächst einmal machen müssen. Anschließend können sie für sich entscheiden, ob das „etwas für sie ist“.
  • Die Klassenprogramme sollten die Heterogenität der Klassen berücksichtigen, z.B. durch Übungsangebote für verschiedene Typen, etwa in Form von Achtsamkeit in Stille und in Bewegung
  • Ein Ziel der Programme besteht darin, kurze Achtsamkeitsrituale für den Unterricht einzuüben (5 Minuten zu Stundenbeginn, 3 Minuten vor einem Phasenwechsel, …)
  • Besonders interessierte Schülerinnen und Schüler erhalten das Angebot, an einer wöchentlich stattfindenden Achtsamkeits-AG teilzunehmen.

Aus eigener Erfahrung weiß ich:

Menschen, die Achtsamkeit in Schule bringen möchten, müssen auf sich aufpassen. Gerade weil wir wissen, wie wichtig unsere Arbeit gesamtgesellschaftlich ist, laufen wir Gefahr, frustriert zu reagieren, wenn andere das nicht verstehen wollen, und so kann es passieren, dass die Aufgabe, die wir uns selbst stellen, uns niederdrückt.

Soryu Forall, der Begründer von Mind the Music, sagte mir vor einigen Monaten einmal:

„Gehe Schritt für Schritt und achte darauf, dass jeder Schritt, den du gehst, in sich stimmig ist und seine Daseinsberechtigung nicht erst durch den nächstfolgenden erhält.“

Jeder Schritt, und sei er noch so klein, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Der erste Schritt ist der der eigenen Praxis. Wer Achtsamkeit praktiziert und die Schule zu seinem Ort der informellen Praxis macht, der verändert sich, und damit verändert er letztlich  auch die Schule.

Pindo

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