
Vor Unterrichtsbeginn im Spätwinter vor meiner Schule
Eines der Schlagwörter, das aus der Quantenphysik in den allgemeinen Diskurs übergangen ist, besteht aus dem Satz: ALLES IST ENERGIE. Bei Google ergibt die Wortkombination 122.000 Treffer. Schnell stößt man auf das folgende Zitat:
„Alles ist Energie, und dazu ist nicht mehr zu sagen. Wenn du dich einschwingst in die Frequenz der Wirklichkeit, die du anstrebst, dann kannst du nicht verhindern, dass sich diese manifestiert. Es kann nicht anders sein. Das ist nicht Philosophie. Das ist Physik.“
Albert Einstein
In diesem Beitrag geht es um die Energie von Wörtern. In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder erfahren, welch drastischen Unterschied es macht, wie ich einen Sachverhalt formuliere. Erläutern möchte ich das Phänomen anhand der beiden deutschen Verben müssen und können. Erstmals erzählte mir Sonsoles Cerviño in einem Gespräch über ihre Arbeit als Kommunikationstrainerin und systemische Coach davon, welch großen Unterschied es mache, wenn sie ein und dieselbe Aussage mit „Du musst…“, oder „Du kannst…“ einleite. Sie versuche grundsätzlich, das Verb „müssen“ im Gespräch mit Klienten zu vermeiden, da dieses beim Gesprächspartner sehr leicht Widerstand auslösen könne. Ebenso ermuntert sie ihre Klienten dazu, in eigenen Sätzen das „Ich muss“ durch ein „Ich kann“ zu ersetzen.
Neugierig geworden begann ich darauf hin, in meiner Arbeit als Lehrer mit meiner eigenen Sprache zu experimentieren und stellte interessante Effekte fest. Um diese nachzuvollziehen, lade ich Sie zu einem Experiment ein. Stellen Sie sich bitte vor, Sie sind Schüler*in in meinem Spanischunterricht, haben einen längeren Text in einer Klassenarbeit geschrieben und lesen bei der Rückgabe der Arbeit nun den folgenden Satz als Reaktion von mir:
Lieber X: Puh, Das sind aber viele Fehler! Du musst Dich jetzt endlich mal hinsetzen und Grammatik lernen.
Wie erging es Ihnen? Spüren Sie – wie viele andere – Unwillen, Ärger, Widerstand oder Frust?
Ein Lehrerkommentar wie der obige ist meist Resultat von Übermüdung und Überforderung angesichts der Korrektur des 27. Textes in Folge. Vordergründig bezieht sich der Kommentar auf den Text, eigentlich bringt er aber meine ganze Unzufriedenheit mit der Situation zum Ausdruck. Nur: Der lesende Schüler weiß das natürlich nicht. Er bezieht alles nur auf sich und geht je nach Veranlagung in den Widerstand – „Du Idiot, kannst mich mal! Ich hasse Spanisch!“ – oder in die Selbstkritik: „Ich kann kein Spanisch. Das lern ich nie!“
Seitdem ich das erfahren habe, bemühe ich mich heute beim Korrigieren immer wieder um einen kurzen Moment des Durchatmens und Auftauchens aus dem Tunnel. Wenn mir dies gelingt, schreibe ich anschließend einen Kommentar wie den folgenden. Wieder lade ich Sie ein, Ihre eigene emotionale Reaktion darauf zu erforschen.
„Lieber X. Du machst immer noch eine ganze Reihe von Fehlern. Einige davon entstehen jedoch gerade dadurch, dass Du versucht, auch komplexe Gedanken auszudrücken. Das finde ich klasse. Tipp zur weiteren Verbesserung? Du könntest Dich in den kommenden Wochen mal intensiver mit den Verbformen der Vergangenheit beschäftigen.“
Wie haben Sie reagiert? Fühlen Sie sich gewürdigt? Spüren Sie die Offenheit für eine mögliche Entwicklung, die im „NOCH“ steckt? Die Freiheit der Handlungsoption im „Dann könntest du mal…“? Reagiert der Schüler auf den ersten Kommentar mit „Ich kann das nicht!“, zieht dieser hier vielleicht die Konsequenz: „Ich kann ja mal einen Blick auf die Verbformen werfen“…
Taatsächlich laden wir also Sachverhalte energetisch völlig unterschiedlich auf, wenn wir sie mit KÖNNEN oder MÜSSEN präsentieren. „DU MUSST“ ist aggressive Druck-Energie und erzeugt Widerstand; „DU KANNST“ schafft eine Perspektive der Offenheit und Verbundenheit.
Spannend, wie wir als Lehrkräfte die Möglichkeit haben, mit kleinen Anpassungen große Veränderungen einzuleiten. Welch eine VERANTWORTUNG dieser Beruf doch mit sich bringt! Wenn man das alles weiß, erscheint es natürlich noch unverständlicher, wie groß unsere Klassen und damit auch die Korrekturberge sind, die es so schwierig machen, dieser Verantwortung gerecht zu werden.
Pindo
Unglaublich, was das „Du kannst“ oder „Du must“ auslösen kann.
Von meinem iPad gesendet
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Wunderbarer Artikel. WWW. Worte wirken wahnsinnig. Worte wirken Wunder. Nicht umsonst haben in den alten Geschichten Worte magische Kräfte. Sie können verfluchen oder verzaubern. Und nicht nur die ausgesprochenen Worte. Es sind auch die Worte, die wir uns selbst sagen … als Achtsamkeitstrainerin MEIN täglich Brot 🙂
Wäre es nicht wünschenswert, wenn dieser Umstand Teil des Lehramtsstudiums wäre …?
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