Der Ruf der Nachtigall

Dreimal in der Woche findet an meiner Schule eine Mittagsmeditation statt. Sie ist inzwischen für eine Reihe von Schüler*innen und Kolleg*innen fester Bestandteil des Alltags.

Für mich ist es ein Wunder, dass diese Achtsamkeitsroutine in der nur halbstündigen Mittagspause nun schon seit drei Jahren existiert: Um 12:15 klingelt es zum Stundenende. Ab 12:20 trudeln Menschen ein, in der Regel zwischen 5 und 15. Um 12:23 schließen wir die Tür, ich begrüße die Anwesenden, stelle die Klangschalen-App auf 12 Minuten und beginne anzuleiten.

Dabei lasse ich mich von dem führen, was sich zeigt. Im Mittelpunkt steht meist das „Außen fühlen“ in Form einer Reise durch den Körper. Wir beginnen bei den Füßen, spüren den Kontakt mit dem festen, stützenden Boden, erkunden die Friedlichkeit neutraler Körperregionen, geben der Anspannung in Schultern Raum, erspüren, wie es sich anfühlt, wenn sich Unterkiefer und Stirn entspannen, lauschen unserem Atem…

An einigen Tagen drängen jedoch die Geräusche des Schulalltags so in unsere Wahrnehmung, dass wir uns ihnen öffnen, „ganz Ohr werden“ und das „Außen hören“ praktizieren. Geschrei auf dem Schulhof, ploppende Basketbälle, Torjubel auf dem Fußballplatz. Gepolter auf dem Gang, die quietschende Durchgangstür vor unserem Raum … All dies wird Objekt unserer Meditation und wir zum Auge des Orkans.

Um 12:36 beenden drei Gongschläge die Praxis. Es folgen 4 Minuten Nachklang: Entweder wir sitzen schweigend und genießen die im wahrsten Sinne des Wortes andächtige Stille in der Gruppe – oder wir tauschen uns über die Praxis aus- 240 Sekunden oft ganz tiefer Einblicke in Seelen, geteilt von Lehrenden und Lernenden. Dann bedanken wir uns beieinander, verabschieden uns und gehen unserer Wege, die meist bis zum nächsten Klassenzimmer führen, wo 5 Minuten später die nächste Stunde beginnt.

Heute ist ein besonderer Tag. Die Friday for Future Demonstration am Brandenburger Tor zieht viele Schüler an und so sitze ich mit Moritz, einem lieben Kollegen allein. Wir sind beide erfahrene Meditierende und genießen die Minuten in Gemeinschaft schweigend. Anschließend erzählt er mir von einer „Außen hören“-Erfahrung. Ein eigenartiges Miteinander von Vogelwelt und pausierenden Schüler ist ihm aufgefallen. Solange die Pause im vollen Gang war und der Schulhof erfüllt von der lauten Energie junger Menschen, hörte er nur das Tschilpen der Spatzen. Dann, als die Menge sich zurück Richtung Gebäude orientierte und der Hof wieder zu einem Ort der Ruhe wurde, erlebte er diesen ganz besonderen Moment, als die Nachtigall wieder zu singen begann, erst ganz zaghaft und dann zunehmend selbstbewusst, wissend, dass es sich nun wieder lohnte, die Welt mit ihrem bezaubernden Lied zu erfüllen.

So war ich eben noch angestrengt, überfordert in dieser harten Abiturwoche mit ihren viel zu vielen Anforderungen und nun beginne ich zu lächeln, erfüllt von der Naturerfahrung des Kollegen.

DAS meine ich, wenn ich sage, dass Achtsamkeit Schule transformiert.

Pindo

 

 

 

 

Ein Gedanke zu „Der Ruf der Nachtigall

  1. UMB-Broeking@t-online.de

    Es ist wirklich wahr. Nachtigallen singen auch am Tag. Es ist wie ein Wunder.
    E.L.

    Von meinem iPad gesendet

    >

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