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Wellen im Meer und an Land

In Peter Wortmans zweisprachigem Prosawerk Stimme und Atem – Out of Breath – out of Mind finde ich die kurze Kindheitserinnerung Der einäugige Kater, oder die Wellentheorie. Darin beschreibt der Autor, wie er im Alter von etwa 10 Jahren am Strand seine Angst vor dem Meer überwindet.

Bis dahin hatte ich eine riesige Angst vor dem Ozean und ging nur widerstrebend zum Strand. Ich mauerte mich in einer Sandburg mit hohen Mauern ein. Doch kamen immer wieder die Wellen und mit einem Hieb zertrümmerten sie meine Festung.

Ich sprang auf und warf mich aus Wut und Verzweiflung ins Wasser, sofort wurde ich von einer Welle umgeworfen. Erst weinte ich. Schnell lernte ich aber, dass die Wellen zwar unbesiegbar waren, dass man sie aber reiten konnte. Ruhig muss man warten, bis auf der Wasserfläche plötzlich ein wilder wackeliger Hügel mit einer Schaumkrone bedeckt wächst. Erst dann, wenn sie die richtige Höhe erreicht hat, wirft man sich, Kopf vorwärts, in die brechende Welle, streichelt sie auf dem Gipfel, wo es braust und schäumt, über den Wirbel unter dem Bauch und zwischen den Beinen, und gleitet auf dem flüssigen Sattel dem Strand entgegen.

Wellen gibt es auch an Land und auch in den Gedanken, das lernte ich erst viel später, nur sind sie da unsichtbar und deshalb um so schwieriger zu erkennen und zu reiten.

Stimme und Atem, S. 26f

Spannend diese Analogie zwischen den Meereswellen und den Wellen der Gedanken. An manchen Tagen überfluten sie mich, brausen und schäumen in und um mich herum. An anderen gelingt es mir, in die Rolle des Betrachters zu schlüpfen und der Wucht bewusst Raum zu geben, und je mehr Raum sie erhalten, desto weniger bedrohlich wirken sie.

Und wer weiß? Womöglich ist es eine Frage der Übung – und irgendwann ist der Raum groß genug und aus der Bedrohung erhebt sich eine Empfindung von Erhabenheit und Ehrfurcht. So wie im Januar vor drei Jahren beim Anblick des Indischen Ozeans, wie er an die Südküste von Australien peitschte.

Pindo