Vor einigen Wochen habe ich die Schülerinnen und Schüler in meiner Achtsamkeits-AG in eine Technik der Sehmeditation eingeführt. Das Vorgehen ist einfach: Wir nehmen uns vor, „ganz Auge zu sein“, das heißt, den Fokus für mehrere Minuten exklusiv aufs Sehen zu richten. Immer, wenn wir uns bewusst werden, dass unsere Gedanken abschweifen, reagieren wir darauf mit wohlwollender Aufmerksamkeit und erneuern dann unseren Fokus des Sehens. Einigen hilft es, den Fokus zu intensivieren, indem sie sich mit ihrer mentalen Stimme in einem Rhythmus von mehreren Sekunden immer wieder aufs Neue sagen: „Sehen! … Sehen!…“.
Ausgangspunkt für diese spontane Übung war die Frage eines Teilnehmers, ob ich einen Tipp habe, wie er seinen „inneren Schweinehund“ überwinden könne, wenn er – wie so oft – keine Lust habe, mit den Hausaufgaben zu beginnen.
Ich schlug darauf hin diese Sehmeditation vor. Wir begannen, indem wir für 3 Minuten den Tischen, an denen wir saßen, unsere volle Aufmerksamkeit widmeten. Anschließend berichteten alle Schüler, dass sie nach kurzer Zeit begannen, Dinge zu entdecken, die sie vorher nicht gesehen hatten. Die Folge war, dass sie dann anschließend mit gesteigertem Interesse auf die Suche nach weiteren Details gingen, die ihnen vorher entgangen waren.
Ich half ihnen, zu verstehen, dass sie da eine eigentlich sehr bedeutsame Erfahrung gemacht hatten. Es war ihnen nämlich gelungen, aus dem Nichts heraus Interesse an einem zunächst völlig banalen Gegenstand zu entwickeln. Dieses faszinierende Phänomen habe ich erstmals durch die Unterweisungen von Soryu Forall, dem „Erfinder“ der Achtsamkeitsprogramme MIND THE MUSIC und MODERN MINDFULNESS kennen gelernt. Er zeigt Jugendlichen, dass sie sich so ganz einfach selbst motivieren können. Für die meisten Jugendlichen, die in der Schule selten wissen, warum sie das alles tun sollen, kann die Entwicklung dieser Fähigkeit einen entscheidenden Impuls für mehr Erfolg und Zufriedenheit in ihrem Leben geben.
Dann bat ich die Teilnehmer/innen, aus dem Fenster zu sehen und für ein paar Minuten nichts anderes zu tun, als den Blick auf den Schulhof (vgl. Foto) zu richten und den Fokus immer wieder zu erneuern. Wir sahen:
Bäume über Bäume,
die aus der Erde empor wachsen,
hunderte verschiedener Töne von
Grün, Gelb und Braun,
tausende herumschwirrender Marienkäfer,
schemenhafte Schornsteine im Dunst am Horizont,
die Mäander einer Weinranke auf einer Hauswand,
Saugnnäpfe einer Pflanze
direkt vor uns im Fensterrahmen
…
Anschließend ergab der Austausch, dass alle Meditierenden das fokussierte Sehen als extrem angenehm empfunden hatten. Es führte zu regelrecht wohligen Körpergefühlen. Ein Schüler berichtete außerdem, wie ihn die Saugnäpfe der Pflanze vor ihm (vgl. Foto) faszinierten und dass er zunächst den Impuls hatte, sie abzureißen, dann aber zu dem Schluss kam, das man so etwas Schönes nicht einfach zerstören dürfe.
Solche Erfahrungen zeigen mir immer wieder aufs Neue wie wichtig es ist, Jugendliche an die Achtsamkeit heranzuführen. Sie kommen durch diese Übungen mit sich selbst in Kontakt. Sie lernen, ihr eigenes Wohlempfinden zu steigern, indem sie in sich hinein fühlen oder die Umgebung, in der sie sich befinden, achtsam wahrnehmen. Und sie lernen Empathie – und sei es mit den Saugnäpfen einer Pflanze, die zu einem Wundwerk der Schöpfung wird.
Solche Jugendliche brauchen wir, heute mehr denn je.
Pindo
PS: Diese Sehmeditation habe ich bei meiner Beschäftigung mit Shinzen Youngs inspirierendem Meditationssystem Basic Mindfulness kennen gelernt. Interessierte finden hier weitere Hinweise und sehr wertvolle Übungsanleitungen.