MBSR – Einblicke in eine Sitzung

Bereits in der ersten Sitzung wusste ich nach kurzer Zeit, dass dieser MBSR-Kurs genau das war, wonach ich gesucht hatte. Wir waren eine recht kleine Gruppe, 6 Teilnehmer und die Leiterin. Von Beginn an beeindruckte mich die Ruhe und das Vertrauen, mit der wir alle miteinander umgingen. In meiner Gruppe waren u.a. drei Ärzte und eine Frau, die im Altenpflegebereich als Ausbilderin tätig war. Ich war erleichtert, dass ich der einzige Lehrer war, da ich wenig Lust verspürte, in dieser für mich ganz neuen Umgebung immer wieder mit den Problemdiskursen konfrontiert zu werden, die ich aus dem Lehrerzimmer jeden Tag schon zur Genüge kannte.

Wir legten schnell die Scheu ab und sprachen ganz offen über all das, was uns  in diesen schönen Raum auf die Meditationskissen geführt hatte. Dieser offene Austausch über unseren Alltag, der bis zu eine Stunde dauern konnte, wurde für mich fast genau so wichtig wie all die Techniken, die ich erlernte. Ich empfand es als großes Privileg, einen Einblick in die intimsten Alltagssorgen eines Chirurgen zu bekommen und spürte enormen Respekt vor der alltäglichen Notwendigkeit in diesem Beruf, Entscheidungen zu fällen, die über Leben und Tod entschieden. Diese so ganz anderen Erfahrungen, an denen ich teilhaben durfte, entspannten mich erstaunlicherweise – vielleicht, weil sie meine eigenen Stressmomente relativierten? Gleichzeitig genoss ich es selbst, in dieser ungewöhnlichen Gemeinschaft aus lauter Fremden, die dennoch so vertrauensvoll miteinander umgingen, über meine Aggressionen und die großen Anforderungen in meinem beruflichen und privaten Leben zu sprechen.

Der Kurs war so aufgebaut, dass wir in jeder Woche verschiedene Meditations- und Yogatechniken erlernten und diese jeweils auf eine unterschiedliche „Innere Haltung“ bezogen. So beschäftigten wir uns nacheinander mit den folgenden acht zentralen Aspekten der Meditation:

  • Nicht-Urteilen
  • Geduld
  • den Geist des Anfängers bewahren
  • Vertrauen
  • Nicht-Greifen
  • Dankbarkeit
  • Loslassen
  • Entschlossenheit

Zu jeder inneren Haltung hörten wir kurze Einführungsvorträge unserer Kursleiterin Karin Wolf, lasen inspirierende Texte von Meditationslehrern, Dichtern oder Mystikern unterschiedlicher Weltreligionen, setzten die Impulse in verschiedenen Meditationsformen um und sprachen anschließend über unsere Erfahrungen. Zudem erhielten wir einen Reader mit weiteren Texten für die Lektüre zuhause sowie jeweils den Auftrag, die neu kennen gelernten Techniken täglich zu üben. Ich las außerdem kursbegleitend das Buch Gesund durch Meditation von Jon Kabat-Zinn. Mit der Lektüre dieses Werkes, das eine Art Leitfaden für den MBSR-Kurs darstellt, hatte ich bereits vor Kursbeginn begonnen. Ich denke, dass das Lesen mit dazu beigetragen hat, dass ich die Kursinhalte so gut umsetzen konnte.

Von größter Bedeutung war allerdings, dass es mir tatsächlich gelang, die von allen Kursteilnehmern erwartete Bereitschaft aufzubringen, täglich für mindestens 45 Minuten zu meditieren. Denn das begriff ich rasch: Meditation ist kein Glaube, kein Nachbeten großer Weisheiten, die irgendwelche Gurus formulieren, sondern in erster Linie die eigene Erfahrung, die Praxis, das Nach-Innen-Hören und die sich daraus ergebenden Erkenntnisse über dich selbst und dein Leben – und dies war es, was mich am meisten daran faszinierte: die Souveränität, die ich mit diesen Erfahrungen plötzlich über mein Leben erhielt.

Pindo

2 Gedanken zu „MBSR – Einblicke in eine Sitzung

  1. Pindo Autor

    Lieber Estha,
    vielen Dank für deinen einfühlsamen Kommentar. Für mich ist das Nichtgreifen und Nichturteilen tatsächlich eine Offenbarung. Sie erlauben mir, gelassener mit mir selbst und meinen Marotten umzugehen und helfen mir, die labile Balance zu halten zwischen meiner zeitraubenden beruflichen Tätigkeit und meinen nicht weniger zeitaufwändigen privaten Verpflichtungen. Den Mittelpunkt der Wippe bilden dabei meine täglichen Sitzungen. Eine halbe Stunde früh morgens, wenn alle noch schlafen und meist noch einmal 20 Minuten im Laufe des Tages. Ohne die fehlt mir etwas Entscheidendes. Viel Glück beim weiteren Austarieren wünscht
    Pindo

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  2. estha

    Lieber Pindo,
    danke für „Achtsam in Berlin“. Ich lese gerne von Deinen Erfahrungen. Sie ermutigen mich, wieder mehr Zeit in der Achtsamkeit und Meditation zu verbringen. Im letzten Jahr habe ich nur sehr wenig in der Stille gesessen. Dabei lässt sich daraus soviel für das Leben schöpfen.
    Der Kölsche Rocker Tommy Engel singt ein so schönes Credo für das Innehalten, das manchmal auch nur ein besinnlicher Moment im Lehrerzimmer sein kann, in dem ich mich am betriebsamen Stimmengewirr und an der warmen Tasse in meiner Hand freue: „…et weed suwisu vilzuvil jemaat“ – Hamsterräder aller Art lauern auch in meinem Leben. Ich will manchmal einfach zuviel Schaffen; das heißt nicht nur in der Arbeit sondern auch in der Freizeit; nicht umsonst laufe ich so gerne stundenlang freiwillig schwitzend durch die Natur.
    Es wäre schön, wenn es gelänge, durch Achtsamkeit die manchmal leidige Unterscheidung zwischen Arbeit und Freizeit zu entkräften. Die Haltung ist dann eben einer der Punkte, die Du in Deinem MBSR-Kurs beschreibst: nichts wird mit einem Etikett versehen, nicht greifen oder urteilen.

    estha

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    Antwort

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