Die Worte in sich einlassen – Hesse über achtsames Zuhören

Kürzlich nahm ich erstmals seit meiner Jugend wieder Hermann Hesses Siddharta in die Hand. Dabei fiel mir die folgende Szene auf, in der der Fährmann Vasudeva seinem Gast Siddharta zuhört, wie dieser stundenlang aus seinem Leben erzählt:

Bis tief in die Nacht hörte ihm der Gastgeber zu: „Alles nahm er lauschend in sich auf, Herkunft und Kindheit, all das Lernen, all das Suchen, alle Freude, alle Not. Dies war unter des Fährmanns Tugenden eine der größten: er verstand wie wenige das Zuhören. Ohne, daß er ein Wort gesprochen hätte, empfand der Sprechende, wie Vasudeva seine Worte in sich einließ, still, offen, wartend, wie er keines verlor, keines mit Ungeduld erwartete, nicht Lob noch Tadel daneben stellte, nur zuhörte. Siddhartha empfand, welches Glück es ist, einem solchen Zuhörer sich zu bekennen, in sein Herz das eigene Leben zu versenken, das eigene Suchen, das eigene Leiden.“

(Aus: Hermann Hesse, Siddharta)

Die Worte in sich einlassen, still, offen, wartend, geduldig, ohne zu urteilen, nur zuhören. Genau diese Haltung üben wir im Achtsamkeitstraining ein. Wir hören Musik und lauschen Klassenkameraden, die über ihre Erfahrungen berichten oder auch im Unterricht Referate halten.

Anschließend, wenn ich meine Schüler frage, wie sie sich bei dieser Art des Zuhörens fühlen, ist die Reaktion stets gleich: Die Lauschenden genießen die Erfahrung, weil sie entspannt bleiben und viel mehr verstehen als sonst. Die Redenden genießen die vollkommen ungewohnte Aufmerksamkeit, die ihnen die anderen entgegen bringen.

Schüler, die im Jahr 2014 für Augenblicke zu jungen Vasudevas werden…

Glücksmomente.

Pindo

4 Gedanken zu „Die Worte in sich einlassen – Hesse über achtsames Zuhören

  1. tw

    Toll! Habe neulich Siddartha gelesen und bin durch Zufall auf diesen Artikel gestoßen, da mich der Ausschnitt über das unvoreingenommene und vollkommen präsente Zuhören ebenfalls fasziniert hat.

    LG

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    1. Adrian Bröking Autor

      Ja, ich bin immer wieder sprachlos, welch Energie durch solch ein Zuhören in einer Gruppe erzeugt wird. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für den Kommentar genommen haben.

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  2. Sabine Heggemann

    Wun-der-bar! Wie schön zu wissen, dass es irgendwo in diesem Lande dieses Miteinander von Lehrer und Schülerinnen und Schülern gibt. Diese Art von Beziehungen und diese so überaus kostbaren Inhalte, die hier vermittelt werden. Vielen Dank. Mein Herz lacht 🙂

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