Die Reise

An diesem Wochenende fand die MBSR-Jahrestagung in Leipzig statt. Ich traf dort inspirierende Menschen, erhielt sehr wertvolle Anregungen für die eigene Praxis und meine Achtsamkeitsarbeit mit den Schülern – und lernte das folgende Gedicht von Mary Oliver kennen…

Pindo

Die Reise

Eines Tages wusstest du endlich,
was zu tun war, und hast begonnen,
obwohl die Stimmen um dich herum
dir weiter ihren schlechten Rat zuriefen –
obwohl das ganze Haus
zu zittern begann
und du wieder spürtest
wie etwas an deinen Knöcheln zog.
„Mach mein Leben besser!“
riefen sie alle.

Aber du bist nicht stehen geblieben.
Du wusstest, was du zu tun hattest,
obwohl der Wind
mit seinen steifen Fingern
an den tiefsten Fundamenten rüttelte,
obwohl ihre Trauer
so schrecklich war.
Es war schon spät
genug, und eine stürmische Nacht,
und der Weg war voll von herabgefallenen
Zweigen und Steinen.

Aber Schritt für Schritt,
während du ihre Stimmen hinter dir ließest,
begannen die Sterne
durch die Wolkendecke zu glühen,
und da war eine neue Stimme,
die du langsam
als deine eigene erkanntest,
die bei dir blieb,
als du tiefer und tiefer
in die Welt gingst,
dazu bestimmt,
das einzige zu tun, was du tun konntest –
dazu bestimmt,
das einzige Leben zu retten, das du retten konntest.

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The Journey
One day you finally knew
what you had to do, and began,
though the voices around you
kept shouting
their bad advice –
though the whole house
began to tremble
and you felt the old tug
at your ankles.
„Mend my life!“
each voice cried.

But you didn’t stop.
You knew what you had to do,
though the wind pried
with its stiff fingers
at the very foundations,
though their melancholy
was terrible.
It was already late
enough, and a wild night,
and the road full of fallen
branches and stones.

But little by little,
as you left their voices behind,
the stars began to burn
through the sheets of clouds,
and there was a new voice
which you slowly
recognized as your own,
that kept you company
as you strode deeper and deeper
into the world,
determined to do
the only thing you could do –
determined to save
the only life you could save.

Mary Oliver

4 Gedanken zu „Die Reise

  1. estha

    Ein schönes Gedicht lieber Pindo, besonders für uns Eltern oder Lehrkörper. Wenn ich es lese, denke ich: Schöne Bilder einer Reise zur Einsicht, schön wie die Spannung aufgebaut wird zu der Schlusszeile hin, bis zu der ich mich frage: WAS denn tun…?

    „save the only life you could save“ Wahrscheinlich ist damit das eigene Leben gemeint, in einem produktiven positiv egoistischen Sinn.
    Ein brutal ehrlicher Satz.

    Also eine Ebene des Gedichtes ist diese:
    Wenn ich etwas für die Kinder tun kann, dann ist das nicht ihre Probleme zu lösen, sondern ihre Fähigkeit zu stärken, die Stimmung der „Reise“ in diesem Gedicht zu entwickeln:
    Die Stimmen der Anderen, die alle etwas von dir wollen, lässt du hinter dir, um deiner eigenen Stimme zu folgen.

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    1. Pindo Autor

      Vielen Dank, lieber Estha, für den tief gehenden Kommentar. Ja, deine Lesart des Gedichts teile ich voll und ganz.
      Pindo

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  2. Karin Wolf

    Lieber Pindo,
    hab Dank für das Gedicht von Mary Oliver. Mit deinem Einverständnis werde ich es am kommenden Sonntag, dem nächsten Achtsamkeitstag, vortragen.
    Bestes
    KW

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